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Sport (AZ, BT)
Der 60-jährige Tuma Oezmen aus Däniken hat in den vergangenen 35 Jahren über 1000 Spiele geleitet und wurde nun an der Aargauer Nacht des Fussballs zum Schiedsrichter des Jahres 2019 gewählt. Ein Rücktritt ist für ihn kein Thema, obwohl der Spielleiter an einer Arthrose leidet.
Raquel Oezmen bittet mich in die gute Stube des kleinen, schmucken Einfamilienhauses im solothurnischen Däniken, bietet Kaffee, Kuchen und Mineralwasser an, blickt in Richtung ihres Mannes Tuma und sagt: «Manchmal weiss ich nicht, was Tuma wichtiger ist.
Auf der einen Seite ist seine Familie mit den beiden Kindern, auf der anderen Seite ist seine Rolle als Schiedsrichter, die ihm eine Menge Spass macht. Das Schiedsrichter-Wesen ist seine Passion, seine Leidenschaft. Ich glaube, dass ihm die Familie und der Job des Schiedsrichters gleich viel bedeuten. Das ist gut so, oder etwa nicht?»
Fragen wir Tuma Oezmen gleich selbst: Was ist wichtiger? Die Familie oder der Job des Schiedsrichters? «Das ist eine schwierige, eine heikle Frage», sagt er. «Ich liebe meine Frau und meine beiden Kinder Ephraim und Salome und würde alles für sie tun. Aber wenn man mich als Schiedsrichter braucht, dann bin ich da. Und wenn man mich als Schiedsrichter zweimal am Tag braucht, dann bin ich zweimal da. Für mich ist diese Aufgabe mehr als eine Verpflichtung. Es ist eine Berufung.»
Oezmen steht auf, nimmt mich am Arm und sagt: «Kommen Sie bitte mit, ich zeige Ihnen etwas.» Er eilt zu seiner Sporttasche im Gang vor der Haustüre und sagt: «Diese Tasche steht Tag und Nacht bereit für einen Einsatz. Sie ist prallgefüllt. Es ist alles drin, was ich vor, während und nach einem Spiel brauche.»
Flugs räumt er die Tasche aus. Was da alles zum Vorschein kommt: Zwei Leibchen, zwei Hosen, zwei Stulpen, zwei Paar Fussballschuhe (für Naturrasen und Kunstrasen), zwei kleine Mappen mit jeweils zwei gelben und zwei roten Karten, vier gelbe und rote Pfeifen, eine Münze für die Platzwahl, ein Shampoo, ein Deo – und zu guter Letzt natürlich der Spesenzettel!
Oezmen kommt in Fahrt, erzählt eine Geschichte nach der andern und erklärt mitten im Wortschwall, wie alles angefangen hat. Er spielte zwischen 1980 und 1985 beim FC Türk Olten. 1984 fragte ihn der damalige Captain des Teams, ob er Lust habe, als Schiri einzusteigen.
Er sei doch ein cooler Typ mit Führungsqualitäten, Sinn für Gerechtigkeit, einer Prise Humor und viel Herzlichkeit. Oezmen hatte Lust, sagte zu und absolvierte die notwendigen Tests und Kurse in Rekordzeit. Kurze Zeit später hatte er seinen ersten Einsatz in einem Spiel der C-Junioren zwischen dem SC Zofingen und dem FC Villmergen. Oezmen blickt zurück und sagt: «Ich hatte keine Probleme. Es lief wie am Schnürchen.»
35 Jahre nach der Premiere folgt die Krönung: Oezmen wird an der Nacht des Aargauer Fussballs zum Schiedsrichter des Jahres 2019 gewählt worden. «Ich stand zusammen mit den zwei andern Kandidaten Christian Geiger und Florim Morina auf der Bühne und wartete auf das Resultat der Wahl», erinnert er sich. «Es war ein wunderschöner Augenblick, als Laudator Sascha Amhof das Couvert öffnete und meinen Namen nannte. Ich war gerührt. Mir kamen sogar die Tränen. Die Auszeichnung ist eine grosse Ehre. Ich bin stolz darauf. Eines kann ich versprechen: Trotz meiner schlimmen Arthrose im linken Knie ist ein Rücktritt kein Thema. Ich kann und will einfach nicht aufhören. Solange ich noch einigermassen laufen kann und gesund bin, mache ich weiter, immer weiter.»
Oezmen lancierte seine Karriere als Schiedsrichter in der Saison 1984/85. Bis zum heutigen Tag hat er mehr als 1000 Spiele in der 4. Liga, 3. Liga und 2. Liga und bei den Junioren geleitet. In der 2. Liga interregional war er als Assistent tätig.
Als Schiri hat er mehr als ein Dutzend Trikots getragen. Weggeworfen hat er keines. Für den Fotografen der «Aargauer Zeitung» hat er die Leibchen fein säuberlich auf dem Sofa in der Stube ausgebreitet. Oezmen setzt sich hin, nimmt ein Trikot, zieht es über den Kopf und sagt: «So, jetzt können Sie fotografieren. Das ist doch ein schönes Sujet für Ihre Zeitung!»
Oezmen hat dreieinhalb Jahrzehnte als Schiedsrichter hinter sich. Was musste er während dieser Zeit auf den Spielfeldern im Aargau alles einstecken! Was musste er sich alles anhören! Trotzdem liess er sich kaum einmal aus der Ruhe bringen. «Im Gegensatz zu einigen Kollegen wurde ich zwar noch nie geschlagen, aber Beleidigungen und Schimpfworte gab es haufenweise», sagt er. «Einmal war ich ein Sauhund, dann war ich ein Trottel. Und dann sogar ein Blinder. Glücklicherweise kann ich mich wehren. Schliesslich habe ich immer eine gelbe und eine rote Karte mit dabei. Es gibt für mich aber auch einen positiven Aspekt. Der Respekt der Spieler gegenüber den Schiedsrichtern ist in den vergangenen Jahren grösser geworden. Das macht Hoffnung für die Zukunft.»
Oezmen ist in der südtürkischen Kleinstadt Mardin nahe der syrischen und irakischen Grenze geboren und aufgewachsen. Nach der Schule kehrte er seiner Heimat im Alter von 18 Jahren den Rücken und suchte sein Glück in der Schweiz. Der Grund? «Die beruflichen Perspektiven in der Südtürkei waren gleich null», sagt er. «Es war für mich unmöglich, eine Arbeit zu finden. Da hatte ich in der Schweiz ganz andere, bessere Aussichten.»
Und so fand Oezmen zwischen 1978 und dem heutigen Tag immer wieder eine Tätigkeit, die ihn forderte und ihm gleichzeitig auch Spass machte. «Meinen ersten Job hatte ich im Hotel Verenahof in Baden», erinnert er sich. «Ich war Portier, stand am Empfang, betreute die Gäste und brachte das Gepäck auf die Zimmer. Ich bin ein geselliger Typ, gerne mit Menschen zusammen und helfe, wo ich kann. Eines habe ich in meinem Leben gelernt: Zusammen geht es besser. Zusammen sind wir stärker.»
Oezmen hatte in den vergangenen vier Jahrzehnten viele Jobs – mal arbeitete er in einer Kunststoff-Fabrik, mal in einer Textilfirma, mal in einer Heizungsfirma. Anfang der 1990er-Jahre absolvierte er die Wirte-Prüfung, war als Kellner im Aarauerhof tätig und hatte dank Weiterbildung Jobs in führenden Positionen in der Gastronomie.
Und was bringt die Zukunft? «Ich bin jetzt 60 Jahre alt und werde jetzt etwas kürzertreten», sagt er. «Das gilt allerdings nicht für meine Tätigkeit als Schiedsrichter.» Noch ist Oezmens Karriere als Schiri also nicht vorbei. Er ist stolz auf das, was er geleistet hat.
Stolz ist er auch auf seinen Sohn Ephraim. Der 15-Jährige hat sich vor kurzem entschieden, in die Fussstapfen seines Vaters zu treten. Ephraim will also Schiedsrichter werden. Sein Lehrmeister und Vorbild? Klar doch: Vater Tuma! Wer weiss? Vielleicht schafft es Ephraim früher oder später auch auf den Thron der Aargauer Schiedsrichter.