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Sport (AZ, BT)
Marvin Lier befindet sich in der Form seines Lebens. Nun trifft der Natispieler mit Pfadi Winterthur auf seinen Ex-Klub Endingen.
Es ist dieser Tage nicht einfach, einen Termin mit Marvin Lier zu vereinbaren. Der Handballnationalspieler hat alle Hände voll zu tun, pendelt von Training zu Training, von Spiel zu Spiel. So bedarf es schon einer glücklichen Fügung, dass wir ihn kurzfristig in der Go Easy-Arena in Siggenthal Station treffen können, wo er gerade mit seinen Nati-Kollegen trainiert. Der Hallenboden ist nach dem zweistündigen Training voller Flecken, unter den Füssen klebt das Harz. Die Tribüne ist leer, die Deckenlampen sind aus.
Ganz anders wird sich die Halle präsentieren, wenn Lier am 5. Dezember hierher zurückkehrt. Im Cupviertelfinal trifft er auf seinen Ex-Verein, den TV Endingen. Die Fans werden ihn wohl mit offenen Armen empfangen. Nicht nur wegen seiner Endinger Vergangenheit, sondern weil Marvin Lier gerade so etwas wie der Mann der Stunde im Schweizer Handball ist.
Liers derzeitigem Lauf in Worten einigermassen gerecht zu werden, gestaltet sich schwierig. Viel besser lässt er sich in Zahlen ausdrücken. Der linke Flügelspieler des NLA-Spitzenvereins Pfadi Winterthur trifft in der Liga nach Belieben. Im Topscorer-Ranking ist Lier dem Zweitklassierten mit 81 Toren bereits 17 Treffer voraus. Im Schnitt trifft er achtmal pro Partie. Daneben ist er ein sicherer Penaltyschütze, hat bei 36 Versuchen erst sechsmal verschossen. Das entspricht einer Erfolgsquote von über 80 Prozent. Macht Lier in diesem Stil weiter, wird er die Saison als Torschützenkönig abschliessen. Eine Auszeichnung, auf die er nicht um jeden Preis hinarbeitet. «Zu sagen, dass es mir nichts bedeuten würde, wäre aber falsche Bescheidenheit», fügt er an.
Marvin Lier ist keiner, der zu Übertreibungen neigt. Im Gespräch gibt sich der 26-Jährige ruhig, überlegt und eher zurückhaltend. Was ihn aber nicht davon abhält, ehrgeizige Ziele für sich und seinen Verein zu formulieren. «Endlich einmal Meister werden» will er. In seinen bisherigen sechs Spielzeiten bei Pfadi Winterthur sprangen erst zwei Cupsiege sowie der Gewinn des Supercups (Meister gegen Cupsieger) heraus.
Der grosse Ehrgeiz war es auch, der ihn in die Eliteliga des Schweizer Handballs katapultiert hat. Angefangen hat Lier in der U9 seines Heimatklubs HC Ehrendingen. Schnell zeigte sich sein aussergewöhnliches Talent und die Trainer meldeten ihn für die Regionalauswahl an. Wenig später dann der Wechsel zum TV Endingen, wo Lier zum Profi wurde: Im Alter von nur 18 Jahren eroberte er sich in der ersten Mannschaft der Endinger einen Platz auf dem linken Flügel und wurde zum unbestrittenen Leistungsträger. Die Surbtaler pendelten zwischen NLA und NLB hin und her; Lier aber wollte sich fest in der A-Liga etablieren. 2012 nahm er schliesslich das Angebot des Spitzenklubs aus Winterthur an und tauschte das Endinger Leibchen mit der Nummer 14 gegen jenes von Pfadi aus.
Zu diesem Zeitpunkt war Lier gerade mal 19. Auf seiner Position hatte er einen ganz harten Brocken vor sich: Marcel Hess, seines Zeichens Pfadi-Captain und heutiger NLA-Rekordspieler. Es folgten Jahre mit wenig Einsatzzeit, in denen er sich auf einmal habe «hinten anstellen» müssen, sagt Lier. Für den Senkrechtstarter eine ungewohnte Erfahrung. «Ich habe mein Ziel aber nie aus den Augen verloren», hält er fest. Und diese Einstellung hat sich bezahlt gemacht: Letztes Jahr schaffte er dauerhaft den Sprung in die ersten Sieben, spätestens nach Hess’ Rückzug aus dem professionellen Handball im Sommer ist Marvin Lier unumstrittener Stammspieler. Nicht selten spielt er heute 60 Minuten durch. Für den Körper eine Belastung, die sich der 1,86-Mann aber gewohnt ist: «Schon bei Endingen stand ich oft über die ganze Spielzeit auf dem Platz. Für mich ist das kein Problem, ich will so viel wie möglich spielen.»
Die acht Trainingseinheiten pro Woche, Meisterschaftsspiele sowie Sponsorentermine zählen zur täglichen Arbeit eines Profihandballers. Das Grösste für einen Sportler: für die Nationalmannschaft aufzulaufen. Dieser Traum erfüllte sich für Lier vor fünf Jahren, als er sein Debüt im Nati-Trikot gab. Nachdem er einige Male überzählig auf der Tribüne gesessen hatte, war es in einem Testspiel gegen Katar endlich so weit – seine ersten vier Tore inklusive. Von Zeit zu Zeit spiele er die Treffer wieder im Kopf durch und lasse den «genialen Moment» aufleben, sagt Lier. Mittlerweile ist er bereits bei 46 Länderspielen angelangt. Auch im Nationalteam ist er – wie könnte es anders sein – Stammspieler.
So erstaunt es nicht, dass Lier die unzähligen Testspiele mit der Nati heute als Routine bezeichnet. Partien wie die beiden Duelle in der EM-Qualifikation gegen Kroatien und Serbien im Oktober aber lassen sein Herz noch immer höherschlagen. Auf die Frage nach seinem bisherigen Höhepunkt als Nati-Spieler antwortet Lier ohne zu zögern: «Die Partie gegen Deutschland vor zwei Jahren im Hallenstadion, als wir vor der Rekordkulisse von über 10 000 Zuschauern aufgelaufen sind.»
Lier würde sich wünschen, dass jedes Mal derart viele Menschen ins Stadion kommen, wenn die Nationalmannschaft spielt. Man sei zwar auf einem guten Weg, immer mehr Fans zu gewinnen, sagt Lier. Aber: «Handball wird nie so populär sein wie Fussball.» Das merke er auch im Alltag. Nur ganz selten werde er auf der Strasse angesprochen oder für ein Foto angehalten. Nicht erkannt zu werden, ist für Lier nicht das Problem. Dass seine Sportart in der Schweiz aber nicht den gleichen Stellenwert wie in anderen Ländern hat, bedauert er. «Die Ausbildung kommt in der Schweiz immer zuerst. Wenn man hier offen formuliert, dass man Handballprofi werden will, schauen einem die Leute erst einmal komisch an.» Seine Eltern hätten ihn zum Glück bedingungslos unterstützt, als er entschieden habe, alles auf die Karte Handball zu setzen.
Es sei ein «sehr schönes Privileg», Profihandballer zu sein, sagt Lier. «Meiner Meinung nach ist es aber ein Beruf wie jeder andere.» Vom Lohn, der zwar nicht so üppig wie beispielsweise im Fussball ausfällt, könne er gut leben. Er weiss aber auch, dass die Karriere im Handball ein vergleichbar schnelles Ablaufdatum hat: «Ab zirka 33 nimmt die Leistungsfähigkeit wegen der Belastung deutlich ab», erklärt er. Für die Zeit danach will Lier vorbereitet sein. An der Universität Zürich studiert er Erziehungswissenschaften und Soziologie; einen Tag vor unserem Treffen hat er gerade seine Bachelorarbeit eingereicht. «Ich kann mir gut vorstellen, einmal einen Job in der Pädagogik anzunehmen», sagt er.
Gut vorstellen kann sich der in der Stadt Zürich wohnhafte Lier auch, bei einem grossen Verein im Ausland Fuss zu fassen. Die beste Zeit als Profi stehe ihm ja noch bevor – «hoffentlich». Eine Präferenz habe er nicht, Frankreich, Deutschland oder Spanien nennt er aber als reizvolle Destinationen. Falls er den Schritt weg aus der Schweiz wagt, bestreitet er diesen nicht alleine: Seine Verlobte Jasmin sei bereit, mit ihm mitzukommen. «Wir haben das schon ein paar Mal gemeinsam besprochen. Sie würde ihre Ausbildung weiterführen», betont Lier. Ein Leben als klassische «Spielerfrau» komme für die ETH-Studentin aber nicht infrage. «Für sie ist es wichtig, nicht auf mich angewiesen sein zu müssen. Wir legen Wert darauf, dass jeder sein eigenes Ding machen darf.»
Bevor sich die Gedankenspiele für die Zukunft weiter konkretisieren, steht für den Ehrendinger aber erst einmal die Rückkehr in seinen Heimatkanton an. Lier freut sich auf das Wiedersehen mit den Endingern, seine Aufregung hält sich aber in Grenzen. Aus gutem Grund: Er hat bereits einige Male gegen den Ex-Verein gespielt. «Es sind eher die Teamkollegen bei Pfadi, die mich damit aufziehen.»
Auf seine Tage als Endinger blickt Lier jedenfalls gerne zurück. Er weiss, dass er dem Verein viel zu verdanken hat. Der Kontakt zu den alten Kollegen sei nie abgebrochen, fast alle im Klub kenne er persönlich. «Es wird lange dauern, bis ich nach dem Spiel endlich duschen kann», sagt er und lacht. Auch Liers Familie sympathisiert mit den Endingern; seine Eltern und sein jüngerer Bruder besuchen die Spiele regelmässig. Er selbst verfolgt jede Woche, wie sich die Mannschaft in der Meisterschaft schlägt. So sagt er auch: «Ich gönne Endingen jeden Sieg.» Ausser gegen Pfadi, versteht sich.