Nach dem Ausfall von Dragan Marjanac steigt Leo Grazioli beim HSC zum Stammtorhüter auf. Der 20-Jährige ist bereit für die Aufgabe – und weiss, dass auf Lob auch Kritik folgen wird.
Wenn in diesen Tagen über Leonard Grazioli gesprochen wird, geht es immer auch um jemand anderen. Grazioli ist die neue Nummer eins beim HSC Suhr Aarau. Doch da ist stets die Erinnerung an denjenigen, der diese Position noch vor ein paar Monaten ausgefüllt hatte. Rund um den Verein sind nicht wenige der Ansicht, dass ihre Mannschaft in den Playoff-Final vorgestossen wäre, wenn Dragan Marjanac in der Halbfinalserie gegen Pfadi im Tor gestanden hätte.
Graziolis Gesicht bleibt auch bei solchen hypothetischen Überlegungen freundlich. Der 20-Jährige lächelt die Vergleiche einfach weg. Weil er weiss, dass die Voten weder bös gemeint sind, noch dass sie etwas mit seinen Fähigkeiten zu tun haben. Grazioli vermag sein Können einzuschätzen, genau wie jenes des 16 Jahre älteren Marjanac: «Dragan hat viel mehr Erfahrung als ich. In den Playoffs ist dieser Unterschied enorm wichtig.»
In diesem Frühjahr war es jedoch plötzlich Grazioli, der den Unterschied ausmachen sollte. Kurz bevor die Spiele gegen Pfadi Winterthur begannen, erlitt Marjanac im Training einen Schlaganfall. Der Vorfall löste grosse Betroffenheit aus, auch bei Vertreter Grazioli, der nun die Verantwortung im Tor fast gänzlich alleine zu schultern hatte. Er habe sich damals sehr unter Druck gesetzt, sagt Grazioli heute.
Doch geholfen hat ihm dies nur bedingt. Die Abwehrquoten korrespondierten nicht mit dem, was sich der junge Torhüter zum Ziel gesetzt hatte. Als die Serie nach drei Partien zu Ende ging, sackte Grazioli zusammen, schlug auf den Boden und weinte. «Ich konnte die Erwartungen an mich selbst nicht erfüllen», sagt er. «Da ist es aus mir herausgebrochen.»
Die Szene des Haderns war untypisch für Leonard Grazioli, den jeder nur Leo nennt. Während den Spielen erlebt man ihn als extrovertiert, als einen, der sich nach Paraden auf die Brust oder wahlweise gegen die Stirn schlägt und breitbeinig auf die Ersatzbank zusteuert, um dort mit den Kollegen abzuklatschen.
Das ist das Bild, das bleibt: jenes des positiv verrückten Torhüters. Ein Klischee, das Grazioli nicht von sich weist. Neben der Platte lernt man den Sissacher aber auch als zuvorkommenden Gesprächspartner mit Basler Dialekt kennen, der sein Selbstbewusstsein auf unaufdringliche Art zur Schau trägt.
Wer hätte vor wenigen Wochen gedacht, dass der HSC Suhr Aarau schon vor dem eigentlichen Saisonstart um die erste Trophäe spielen würde? Wohl nur die Wenigsten. Doch genau so ist es jetzt gekommen: Heute Samstag (ab 19 Uhr im AZ-Liveticker) bekommt der HSC im Supercup die Chance, seinen Titel aus dem Vorjahr zu verteidigen. Unter normalen Umständen hätte Suhr Aarau keinen Anspruch auf eine Finalteilnahme gehabt.
Jedoch hat Cupsieger Schaffhausen seinen Supercup-Startplatz wegen Verpflichtungen im Europacup abgeben müssen. Anstelle der Kadetten wäre Kriens-Luzern als erster Nachrücker an der Reihe gewesen. Doch auch die Innerschweizer mussten aus denselben Gründen absagen. Der nächste auf der Liste war der HSC Suhr Aarau – und der hat tatsächlich Zeit, um in Winterthur gegen Meister Pfadi anzutreten. Und damit Revanche für das Halbfinal-Aus in den vergangenen Playoffs zu nehmen. (frh)
Beim HSC ist Grazioli allerdings nicht wegen seines lockeren Habitus zum Stammgoalie aufgestiegen, sondern in erster Linie aufgrund seines Potenzials als Sportler. Von allen Seiten wird Grazioli grosses Talent bescheinigt, sein Trainer Misha Kaufmann attestiert ihm «Ehrgeiz, Willen und den richtigen Kopf». Ihm werde man einmal auf Eurosport zuschauen können, wenn er in der Bundesliga oder einer anderen Topliga spiele, sagte Kaufmann unlängst. Wenngleich Grazioli betont, dass der Fokus zurzeit nur dem HSC gelte, sagt er: «Das Ausland ist mein Ziel.»
Nicht unwesentlich bei derlei Ambitionen ist, dass Grazioli auch wirklich auf Handball als Beruf setzt. Es ist eine Tatsache, die ihn auch bei Nationaltrainer Michael Suter beliebt macht, unter dem es Grazioli bislang zu sieben Einsätzen in der A-Auswahl gebracht hat. Handball hat für Grazioli erste Priorität, daran ändert auch das Fernstudium
in Geschichte nichts, das er ab September aufnehmen wird.
Nach seinem im Mai erlittenen Schlaganfall wird Marjanac in absehbarer Zeit nicht auf die Platte zurückkehren. Von nun an ist Grazioli erste Wahl, hinter ihm reiht sich der um ein Jahr jüngere Jannis Scheidiger ein. Es wird Phasen geben, da wird Grazioli nicht mehr bedingungslos mit Lob bedacht werden. Er wird auch in der Kritik stehen, wenn Leistung und Anspruch nicht im Einklang sind. Die neue Rolle bringt das mit sich, aber Grazioli mag das. «Genau so will ich es», sagt er. Eine andere Antwort hätte man auch gar nicht erwartet.