Kolumne: «Aus Gäuer Sicht»
Kulturelle Aneignung im Gäu

Unser Kolumnist macht sich Gedanken darüber, dass sich aufgrund der Diskussionen um «kulturelle Aneignung» Werte wie Freundschaft und Toleranz auf der Strecke bleiben.

Beat Nützi
Beat Nützi
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Könnte auch Yoga schon eine Form von «kultureller Aneignung» sein, fragt sich unser Kolumnist.

Könnte auch Yoga schon eine Form von «kultureller Aneignung» sein, fragt sich unser Kolumnist.

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Das Sommerloch treibt immer wieder seltsame Blüten, auch heuer. So sorgt(e) ein ganz besonderer Begriff für Schlagzeilen: Kulturelle Aneignung. Besondere Berühmtheit erlangte in Bern das Quartier Lorraine und die gleichnamige Brasserie, in der eine weisse Band Reggae-Musik spielte und Bandmitglieder Rastalocken trugen. Es entstand ein schlagzeilenträchtiger Konflikt, weil verschiedene Konzertbesucher den Auftritt als kulturelle Aneignung empfanden. Es kam zu einem Konzertabbruch, ein Shitstorm folgte.

Ein solcher entlud sich auch über dem Verlag Ravensburger, dem im Zusammenhang mit einer Film-Neuadaption von Karl Mays Klassiker Winnetou Rassismus und kulturelle Aneignung vorgeworfen wurde. Schliesslich sah sich der Verlag veranlasst, das Winnetou-Buch zurückzuziehen. Darauf sahen sich auch ARD und SRF bemüssigt, Winnetou-Filme aus dem Programm zu nehmen.

Es mutet höchst sonderbar an, wenn es in einem ausgeprägten Multikulti-Quartier wie der Berner Lorraine zu Diskussionen kommt über Schweizer Musiker, die Rastalocken tragen. Oder wenn ein renommierter Verlag sich dem Druck eines Online-Mobs beugt. Noch fragwürdiger ist, wenn sich öffentlich-rechtliche Fernsehsender so unter Druck setzen lassen.

Das erinnert schon fast an die Zeit des Stalinismus, als es Winnetou-Bücher nur noch unter der Hand gab. Dabei vermittelt Winnetou seit jeher die Werte von Freundschaft und Frieden. Er gehört nicht, vom Woke-Wahnsinn getrieben, an den Marterpfahl der Zensur.

Ebenso wenig ist auszugrenzen, wer sich mit der Reggae-Musik und ihrem Erfinder Bob Marley verbunden fühlt und das mit Rastalocken zum Ausdruck bringen will. Schliesslich kann diese Haartracht auch eine Geste von Solidarität sein oder ganz einfach die Sehnsucht nach Freiheit und karibischer Lebenslust ausdrücken.

Wo geraten wir hin, wenn Werte wie Freundschaft und Frieden, Freiheit und Toleranz immer mehr in Bedrängnis geraten? Wie sehr ist unsere freiheitliche Ordnung bereits gefährdet, wenn Menschen ihre Haare nicht mehr tragen können, wie sie wollen, und Winnetou-Bücher und -Filme Anstoss erregen? Alles unter dem Vorwand kultureller Aneignung.

Wie steht es damit im Gäu? Ich stelle mit Genugtuung und einer gewissen Erleichterung fest, dass Winnetou bei Kindern immer noch beliebt ist und nach wie vor Indianerlis gespielt wird – kulturelle Aneignung hin oder her. Ich habe auch noch nie davon gehört, dass sich jemand grundsätzlich an Reggae-Musik oder Rastalocken stört – kulturelle Aneignung hin oder her.

In vielen Gäuer Haushaltungen gibt es nicht nur hiesige Instrumente, sondern auch solche aus anderen Kulturen, zum Beispiel Didgeridoos aus Australien, Banjos aus Amerika, Balalaikas aus Russland oder Sitars aus Indien – kulturelle Aneignung hin oder her. Und wir haben auch nichts gegen den Betrieb von Spezialitätenrestaurants mit fremder Kost aus Italien, China, Vietnam usw. – kulturelle Aneignung hin oder her.

Gäuerinnen und Gäuer erfreuen sich bei Yoga, einer Körperlehre, die ihren Ursprung im Hinduismus hat, und unterhalten sich in Dirndl und Lederhose an einem Oktoberfest (Ursprung Deutschland) oder tanzen in Raver-Montur an einer Techno-Party (Ursprung USA) – kulturelle Aneignung hin oder her.

Fazit: Kulturelle Aneignung sieht man im Gäu nicht als Gefahr oder Problem. Die zunehmende Intoleranz und den Meinungsterror durch einen gewissen Online-Mob aber schon. Diesem ist nicht nachzugeben, sondern der Kampf anzusagen – im Interesse unserer politischen Kultur, in der Meinungsterror keinen Platz hat.

Kulturelle Aneignung hin oder her.