Olten
Die Schweizer streiken nicht mehr: Liegt es am Wohlstand – oder einem Wandel der Mentalität?

Ein Podiumsgespräch im Rahmen des Theaters zum Landesstreik 1918 in der alten Hauptwerkstätte der SBB widmete sich den Fragen um Verteilung von Macht, Reichtum und Armut.

Urs Amacher
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Das Podium (v.l.): Thomas Näf, Präsident des Komitees der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen, Nora Wilhelm, Geschäftsführerin von collaboratio helvetica, Gesprächsleiter Christoph Keller und Ueli Mäder, Soziologieprofessor.

Das Podium (v.l.): Thomas Näf, Präsident des Komitees der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen, Nora Wilhelm, Geschäftsführerin von collaboratio helvetica, Gesprächsleiter Christoph Keller und Ueli Mäder, Soziologieprofessor.

Urs Amacher

Die Themen und Fragen, die im Landesstreik 1918 aufgeworfen wurden, sind nach wie vor aktuell. Dies zeigte eine gut besuchte Veranstaltung, zu welcher das Polit-Forum im Käfigturm Bern gestern Sonntagvormittag gemeinsam mit dem Team 1918.CH in den Aufführungsort des Theaters eingeladen hatte. Thomas Göttin vom Polit-Forum stellte die Gesprächsrunde auf dem Podium in der ehemaligen Hauptwerkstätte vor.

Christoph Keller, Redaktionsleiter des Ressorts Kultur und Gesellschaft beim Radio SFR2 Kultur, moderierte die Diskussion zwischen den drei Gästen Thomas Näf, Präsident des Komitees der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen (KABBA), Nora Wilhelm, Geschäftsführerin der Organisation collaboratio helvetica, und Ueli Mäder, emeritierter Soziologieprofessor der Uni Basel.

Macht anders verteilen

Als Einstieg trug Theaterleiterin Liliana Heimberg einen Brief von General Wille vor, der seinen Militäreinsatz legitimierte und die Furcht des Bürgertums vor einem gewaltsamen Umsturz mehr schürte, als dämpfte. Damals streikten 250'000 Arbeiter. Heute ist die Not nicht mehr so verbreitet. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich jedoch ständig mehr. In der Schweiz besitzt 1 Prozent der Personen 41 Prozent der Vermögen, dazu haben in letzten 20 Jahren die tausend Reichsten ihr Vermögen versechsfacht, zitierte Christoph Keller die Statistik, und fragte: «Warum wird da heute nicht gestreikt?»

Gegenüber von vor hundert Jahren sind doch Fortschritte erzielt worden, damalige Forderungen wie das Frauenstimmrecht und eine – wenn auch immer wieder infrage gestellte – Altersvorsorge sind verwirklicht. Viele haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen gewissen Wohlstand erreicht.

Gleichzeitig, betonte KABBA-Präsident Thomas Näf, befinden sich viele Menschen in prekären Wohn- und Arbeitsverhältnissen, müssen schlecht bezahlt und auf Abruf arbeiten. Wer in einem solchen Überlebenskampf steht, hat kaum mehr Energie und Zeit, um sich in Gewerkschaft oder Politik für Änderungen zu engagieren. Gleichzeitig seien Leute in gefährdeten Arbeitssituationen eher bereit, einfache Lösungen zu akzeptieren und die Schuld beispielsweise der Zuwanderung zuzuschieben, stellte Näf fest.

Mentalität hat sich gewandelt

Nora Wilhelm erkennt auch einen Wandel in der Mentalität. Wenn heute Menschen in berufliche und finanzielle Schwierigkeiten geraten, suchen sie das Defizit bei sich. Sie fühlen sich individuell dafür verantwortlich, statt berechtigte Kritik am System zu üben und dieses anzugreifen. Mehr noch, sie identifizieren sich oft – eigentlich gegen die eigenen unmittelbaren Interessen – mit den Mächtigen und hoffen, es falle etwas für sie ab.

Ueli Mäder ergänzte, dass viele Angst haben, sich zu exponieren und sich fürchten, eins aufs Dach zu bekommen, wenn sie versuchen, etwas zu ändern. Dem widersetzte sich allerdings in der Fragerunde ein Votant aus dem Publikum. Gerade in einzelnen Branchen und Firmen spielte in Krisenfällen doch eine starke Solidarität, und mit Streiks sei die Gegenseite zu Konzessionen bewegt worden. In einer allgemeineren Form stimmte ihm das Podium zu.

Thomas Näf rief dazu auf, in unserer globalisierten Welt die übernationalen Organisationen wie UNO und EU zu stärken. Als Gegenstück dazu appellierte Nora Wilhelm, das Pflegen der sozialen Kontakte in lokalen Strukturen zu fördern. Aus gemeinsamem Erleben und Engagement im Kleinen, davon ist Nora Wilhelm überzeugt, kann sehr wohl eine Ausstrahlung bis ins Globale daraus erwachsen.