Seraphisches Liebeswerk
«Nicht mehr zusammensetzbar»: Betroffene erzählt, wie Fremdplatzierungen ihre Familie auseinanderriss

Renate F. hatte keinen einfachen Start ins Leben: Die Behörden und das Seraphische Liebeswerk rissen ihre Brüder aus der Familie und platzierten sie fremd. Sie selbst wurde missbraucht. Eine Geschichte über Folgen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.

Lucien Fluri
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Der Sitz des Seraphischen Liebeswerks in Solothurn.

Der Sitz des Seraphischen Liebeswerks in Solothurn.

Tom Ulrich

Die Wut treibt Renate F. an. Die Wut, dass andere Menschen so schwer in ihre Kindheit eingegriffen haben. Die Wut, dass sie sexuellen Missbrauch erleben musste. Die Wut, dass ihre Brüder fremdplatziert wurden, dass Behörden ihre Familie zerrissen haben. Deshalb will sie ihre Geschichte erzählen.

Traumatische Erinnerungen an die «Gastfreundschaft»

Die Mittsechzigerin sitzt in ihrem Wintergarten. Es gibt Erlebnisse, die sie bis heute auch nahestehenden Menschen nicht erzählt hat. Erst an diesem Morgen nahm sie ihre Tochter zur Seite und vertraute ihr an, was zuvor nur ihr Mann wusste: Wie sie in den 1960er-Jahren vom Seraphischen Liebeswerk in Solothurn als Ferienkind zu einer Gastfamilie nach Immensee vermittelt wurde. Wie der «Feriengastgeber» die Situation ausnutzte, wenn seine Frau putzen ging. Wie F. und ein anderes Mädchen zuerst auf seinen Schoss sitzen mussten, um ihn aufzugeilen. Wie sie sich dann vor ihm entblössen und zusehen mussten, als er sich selbst befriedigte.

«Für das andere Mädchen war das selbstverständlich, es hatte es dort bereits in den Jahren zuvor erlebt», sagt F. «Warum wurde nicht besser hingeschaut, wohin man Ferienkinder vermittelt? Es reichte, dass die Familie tief katholisch war, damit ihr unschuldige Kinder anvertraut wurden.» F. konnte sich damals niemandem anvertrauen, weigerte sich aber, nochmals in die «Ferien» zu gehen. «Was ist, wenn man nicht stark genug ist, dies hinter sich zu lassen?», fragt sie.

Familie vom einen auf den anderen Tag auseinandergerissen

Die Geschichte von Renate F. beginnt Ende der 1950er-Jahre, Anfang der 1960er-Jahre in einer Gemeinde im Leberberg. Zwischen ihren Eltern tobte ein erbitterter Scheidungskrieg, in dem auch eine Tante mitmischte. Am Ende blieb ihre Mutter mit den vier Kindern alleine zurück. «Die finanziellen Sorgen haben uns manchmal fast erdrückt», sagt F.

Der Alltag war nicht einfach: Die Mutter arbeitete in der Fabrik, betrieb Heimarbeit bis spät in die Nacht, nebenbei der Haushalt mit vier Kindern. «Ist es da verwunderlich, dass sie oft überfordert war, wenn die Kinder nicht spurten?», fragt F. Auf Drängen des Vaters griffen die Behörden ein. Als die Mutter eine zweite Ehe eingehen wollte, nahm man ihr die drei Söhne weg. Das Seraphische Liebeswerk in Solothurn vermittelte sie in Pflegefamilien in der Innerschweiz, wie es die Institution in Tausenden Fällen tat, wenn Kinder aus den Familien genommen wurden (vgl. Kasten unten). Einzig Renate F. selbst blieb, als ältestes Kind, bei der Mutter.

«Vom einen auf den anderen Tag waren die Knaben weg», sagt F. Bis heute erinnert sie sich an den Tag, als ihre Brüder abgeholt wurden. «Es war dramatisch, der Schmerz unerträglich, die lange Zeit unendlich.» Es folgten schwierige Jahre. Vergeblich kämpfte die Mutter dafür, ihre Söhne zurückzuerhalten. «Ich sehe erst jetzt, was sie alles geleistet hat und wie viel Geld für Anwälte und Kraft sie brauchte, um alles auszuhalten.» Ihre Mutter sei eine «kleine starke Frau» gewesen, sagt F., die viele Schwierigkeiten bewundernswert gemeistert habe. Das Leben habe ihr von klein auf viel abverlangt – geboren als «letztes und unerwünschtes» Kind einer elfköpfigen Geschwisterschar.

Entscheide von damals prägen das Leben bis heute

Renate F. will ihre Geschichte erzählen, um zu zeigen, wie sehr Behördenentscheide Familien prägten. «Man trägt dies ein Leben lang mit», sagt sie. Bis heute haben die damaligen Fremdplatzierungsbeschlüsse Folgen: Das Verhältnis der Geschwister untereinander ist zerrüttet. «Das Band, das Geschwister in Kindertagen zusammenhält, wurde damals durch die harte Trennung beschädigt», sagt F. «Es ist nicht mehr zusammensetzbar.»

Weil dies, was sie hier erzählt, auch ganz Persönliches ihrer Brüder betrifft, fehlen hier auch der richtige Name und der Wohnort. Das Leben der Brüder soll nicht an die Öffentlichkeit getragen werden. «Sie haben ihre eigenen Geschichten, die eigenen Verletzungen», sagt F. Doch alle drei hätten das Leben dann bewundernswert gemeistert, auch wenn es der Jüngste aufgrund einer Drogenabhängigkeit noch schwerer gehabt habe.

Besonders bedrückend blieben F. die Besuche bei ihren Brüdern in den Pflegefamilien in Erinnerung. Die Pflegefamilien hätten mit allen Mitteln versucht, das Besuchsrecht zu unterbinden. Ihre Mutter sei auf verschiedene Weise diskreditiert worden. «Die Situation war oft unerträglich, weil die Knaben so negativ gegen die Eltern beeinflusst wurden. Es wurde immer schlecht über meine Mutter gesprochen», sagt F. «Der Mutter wurde gar gesagt: Du Dreckmoore hast hier nichts verloren.» Als ein Bruder nach einem Ferienaufenthalt bei der Mutter nicht mehr zur Pflegefamilie zurückwollte, holte ihn die Polizei ab.

«Unsere Mutter hat gut zu uns geschaut»

F. stützt den Kopf auf die Hände, sie hat sich in den Tagen vor dem Gespräch erst wieder in die Vergangenheit eingegraben, immer neue Details kommen ihr in den Sinn. «Ich habe dies über Jahre verdrängt. Ich wollte nicht mehr daran denken.»

Es sind schmerzhafte Erinnerungen. Vor allem der Umgang der Behörden mit ihrer Mutter stimmt sie bis heute traurig. Mehrmals sagt Renate F.: «Meine Mami war kein schlechter Mensch. Man hat ihr sehr viel Leid angetan, indem man ihr die Kinder weggenommen hat.» F. hadert mit den damaligen Behörden und sie hadert mit dem Seraphischen Liebeswerk, das die Pflegefamilien nicht besser abklärte. «Unsere Mutter hat gut zu uns geschaut. Nur weil das Geld nicht reicht, ist dies kein Grund, einer Mutter die Kinder wegzunehmen.»

Eines aber liess sich ihre Mutter, die vor wenigen Jahren verstorben ist, nie gefallen: Sie wehrte sich bis zuletzt gegen das Ansinnen der Behörden, dass die Knaben zur Adoption freigegeben werden. Und: Es ging dann, in den 1960er-Jahren, auch wieder aufwärts: Die finanziellen Verhältnisse der Mutter wurden in der neuen Ehe stabil. Renate F., ihre Mutter und ihr Stiefvater zogen um, eine neue Vormundschaftsbehörde half, zum ersten Mal, der Mutter, sodass letztlich zwei Brüder von F. für die Lehre zurück zu Mutter, Schwester und Stiefvater kamen.

Einblick in die Akten offenbart noch einmal Schmerzhaftes

Einige Wochen später sitzt F. wieder im Wintergarten ihres Hauses. Nun liegen vor ihr die Akten, die das Solothurner Staatsarchiv zu ihrem Fall finden konnte. Betroffene haben Anrecht, ihre Dokumente einzusehen. Dies gebe ihr die Möglichkeit, mit dem Fall abzuschliessen, sagt sie.

Doch es sind nochmals schmerzhafte Stunden. Sie hat in den Dokumenten gelesen, wie Nachbarn die Mutter kontrollierten und der Tante des Vaters rapportierten, ob bei ihrer Mutter Männer ein und ausgehen. Sie hat erlebt, wie die Behörden die Ordentlichkeit zu Hause kontrollierten. Sie sah, an wie rigiden Moralvorstellungen eine alleinerziehende Frau gemessen wurde. «Ich wusste nicht, dass meine Mutter so sehr unter Kontrolle stand.» Sie las Details über die Scheidung ihrer Eltern und sie hat gesehen, wie sehr sich ihre Mutter gegen den Entzug der elterlichen Gewalt wehrte.

Sie hat gelesen, wie Pflegeeltern ihren Vater wegen «angeblich dubiosen sexuellen Machenschaften» anschwärzten. «Sie schreckten vor nichts zurück, und sie haben damit wirklich erreicht, dass dem Vater das Besuchsrecht untersagt wurde», sagt F. Dabei sei der Vater ihr gegenüber immer korrekt gewesen. Und Renate F. las in den Akten auch Urteile, die andere über sie selbst gefällt haben. «Schwatzhaft», sei sie, «wenig begabt», schrieb ein Lehrer über das Mädchen. Ein Lehrer, von dem sie geglaubt hat, dass er sie versteht. Das Urteil hat F. getroffen. «Man war einfach abgestempelt», sagt sie. «Nur schon wegen der Familiensituation. Da hatte man keine Chance.» Zwar hatte sie tatsächlich keinen einfachen Start in der Schule. Die psychische Belastung durch die Familiensituation schmälerte ihre Leistung. Aber später hat sie aufgedreht und gekämpft. Sie hat das KV abgeschlossen, als sie schon über 40 Jahre alt war. Sie arbeitete in Führungspositionen in der Buchhaltung grösserer KMU.

Mit ihrem Mann baute sie sich ein schönes Einfamilienhaus. Sie hat einer Tochter das Leben geschenkt, obwohl sie nach ihrer eigenen Kindheit Ängste hatte, selbst Mutter zu werden. «Heute bin ich überglücklich, dass es passiert ist. Sie ist das Beste!» Ihr Leben wurde eine mittelständische Erfolgsgeschichte. Auch ihre Brüder hätten beruflich Erfolg gehabt, sagt sie. Die Jugend habe sie alle Gradlinigkeit und Stärke gelehrt. Doch was geschehen war, haben sie nicht vergessen. «Es prägt Dich so sehr», sagt sie. «Niemand wird geboren, wie er ist. Meine ganze Familie hätte gerne ein einfacheres Leben gehabt.»

Eine traurige Geschichte mit einer Drehscheibe in Solothurn

Es ist ein trauriges Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte: Bis Anfang der 1980er-Jahre wurden Tausende Kinder im Rahmen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen aus ihren Familien oder von ihren alleinerziehenden Müttern weggenommen und von den Behörden fremdplatziert. Eine Drehscheibe in der katholischen Deutschschweiz war dabei lange Zeit das Seraphische Liebeswerk in Solothurn. Tausende Kinder wurden mittels der Hilfsorganisation in Heimen oder bei Adoptivfamilien fremdplatziert. Genau aufgearbeitet ist diese Geschichte nicht: Viele Akten des Seraphischen Liebeswerks wurden vernichtet. Allerdings erfolgte die Platzierung stets «auf Anfrage und im Auftrag zuständiger Stellen und Behörden», wie man bei der Institution betont. Gründe für Fremdplatzierungen können Alkoholismus, Scheidungen oder Krankheiten der Eltern gewesen sein; auch uneheliche Kinder wurden fremdplatziert. Das Vorgehen entsprach dem Zeitgeist, ärmere Familien oder alleinerziehende Mütter waren rasch stigmatisiert. Historiker attestieren dem Seraphischen Liebeswerk, damals im Anspruch der «Nächstenliebe» gehandelt zu haben. Heute haben Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen Anspruch auf eine Entschädigung des Bundes. (lfh)