Gastkolumne zur Gefährdung des sozialen Friedens
Unsere Mutter sagte uns immer: «Schaut zueinander, dann geht’s euch allen gut.» Sie war keine Politikerin. Nein, sie war Mutter von elf Kindern und Krankenschwester mit Leib und Seele, die in frühen Jahren ihren Mann verlor und ums Überleben der Familie kämpfen musste. Trotzdem hat sie in all den Jahren auch Kinder von Gastarbeiterfamilien betreut und ihnen, während ihre Eltern arbeiten mussten, ein Zuhause geboten. Sie hat uns gelehrt, für Gerechtigkeit zu kämpfen und uns für die Schwächeren einzusetzen. Heute würde man wohl sagen, sie habe uns den Grundsatz der Solidarität beigebracht.
Wenn ich die aktuellen politischen Auseinandersetzungen mitverfolge, frage ich mich manchmal, was wohl einzelne Akteure in ihrer Kinderstube mit auf den Weg bekommen haben. Wie bringt man es fertig, bei den AHV- und IV-Rentnerinnen und -Rentnern die Kinderrente kürzen zu wollen, wie dies in den letzten Tagen die Sozialkommission des Nationalrates beschloss? Es soll also dort Geld gespart werden, wo eh schon wenig vorhanden ist. Wie sollen die Kinder solcher Familien gleiche Chancen wie die anderen haben, wenn nun auf ihrem Buckel gespart werden soll?
Und als ob das nicht genug wäre, sollen Versicherungen mit dem Observationsartikel dazu berechtigt werden, Versicherte von IV, Kranken- und Unfallkassen zu überwachen und sie in ihrem privaten Umfeld auszuspionieren. Jeder Versicherte wird unter den Generalverdacht eines potenziellen Versicherungsbetrügers gestellt. Dafür sollen den Versicherungen Kompetenzen erteilt werden, die weiter gehen als die der Polizei bei der Aufklärung von Verbrechen. Denn die Versicherungen werden diese Observationen selber anordnen können. Bei Straftätern geht dies nur mit richterlichem Beschluss.
Demgegenüber sollen Superreiche und Grosskonzerne immer mehr privilegiert werden. Die Steuervorlage 17 soll sie um Milliarden entlasten, Geld, das der Staat dringend braucht. Und als sei es ein Selbstbedienungsladen, hat der Nationalrat beschlossen, dass Firmen ausländische Bussen von den Steuern sollen absetzen können. Im Kanton haben sich über 900 Steuersünder gemeldet, die fast 100 Millionen Franken Vermögen nicht versteuert haben. Für ihre Reue kommen sie straflos davon, auch wenn die grösste gemeldete Schwarzgeldsumme dabei 12 Millionen Franken beträgt.
Zwei Prozent der in der Schweiz lebenden Personen besitzen so viel wie die restlichen 98 Prozent. Der Kanton Solothurn ist für Vermögende sehr attraktiv, dafür bezahlen mittlere und tiefe Einkommen, verglichen mit dem schweizerischen Durchschnitt, teils mehr als doppelt so viel Steuern.
Da stimmt doch etwas nicht mit der Solidarität! Während sich die einen immer grössere Stücke vom Kuchen abschneiden, wird bei den anderen gespart. Die Armutsrate steigt stetig an, und trotzdem schaffen es gewisse Kreise mit Kampagnen gegen «Scheininvalide» und Sozialschmarotzer und Versicherungsbetrüger, die Menschen in unserem Land gegeneinander auszuspielen. Sie lenken damit von den eigentlichen Problemen und ihrer ungerechten Raffgier ab und können sich deshalb weiterhin ungeachtet an diesem System bedienen. Wenn wir allen Menschen die gleichen Chancen auf ein Leben in Würde geben wollen, müssen wir grundsätzlich etwas ändern. Eine solidarische Umverteilung und damit verbunden eine Stärkung des Staates und der Sozialversicherungen ist dringend notwendig. Politiker, Unternehmer und Vermögende stehen in der Pflicht, wenn sie nicht den sozialen Frieden in diesem Land gefährden wollen. Nur ein starker Staat ist ein sozialer Staat, und dazu haben alle solidarisch ihren Anteil beizutragen.
Markus Baumann ist Präsident des kantonalen Gewerkschaftsbundes und SP-Kantonsrat. Er lebt in Derendingen.