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Schweiz
Einst als rückständiger Bauernkanton belächelt, hat sich Freiburg gezielt zu einem klassischen «Aufholkanton» entwickelt – ein Porträt des Kantons, der nächstes Jahr gleichzeitig den Bundes- und Nationalratspräsidenten stellt. Beide werden heute Montag gewählt.
Man nennt ihn «Brücke». Oder, weniger schmeichelhaft, «eingeklemmt». Gemeint ist dasselbe – der Kanton Freiburg. Zutreffend ist wahrlich beides: Wie kaum ein anderer hat der zweisprachige Kanton eine Scharnierfunktion zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz. Nirgends wird der Bilinguismus mehr gelebt, auch wenn eine deutliche Mehrheit französischer Muttersprache ist. Freiburg ist aber auch massiv von den beiden Nachbarn Bern und Waadt – den zweit- und drittbevölkerungsreichsten Kantonen der Schweiz – abhängig. Ohne sie wäre die zuletzt spektakuläre wirtschaftliche und demografische Entwicklung nicht denkbar gewesen. Doch dazu später.
Denn die Aktualität gibt dieser Tage mehr als genug zu reden: Vor etwas mehr als einer Woche hob das Freiburger Parlament die Immunität der Staatsrätin Marie Garnier auf. Der grünen Politikerin wird Verletzung des Amtsgeheimnisses vorgeworfen. Sie soll den Medien vertrauliche Dokumente zugespielt haben. Zermürbt von den monatelangen Querelen hatte sie schon Anfang November ihren Rücktritt eingereicht, mit der Aufhebung ihrer Immunität werden die Vorwürfe nun juristisch abgeklärt.
Positivere Schlagzeilen schreiben demnächst zwei prominente «Söhne» des Kantons, Alain Berset und Dominique de Buman. Beide werden in der bevorstehenden Wintersession in ein repräsentatives Amt gewählt – der 45-jährige Berset wird Bundes-, der 61-jährige de Buman Nationalratspräsident.
Dass die Ernennung im selben Jahr erfolgt, ist Zufall. Dass gerade zwei Vertreter des gleichen Kantons auf den Schild gehievt werden, hingegen nicht. Lang ist die Liste von Freiburgern in hohen Polit- oder Verwaltungsämtern: Angefangen bei der (früheren) SP-Powerachse Christian Levrat– Alain Berset–Jean-François Steiert über SVP-Romandie-Schwergewicht Jean-François Rime bis hin zu Post-Verwaltungsratspräsident Urs Schwaller (ehemaliger CVP-Ständerat) oder Isabelle Chassot, Direktorin des Bundesamts für Kultur. Natürlich profitieren sie von ihren zumeist überdurchschnittlichen Sprachkenntnissen und der geografischen Nähe zu Bundesbern. Es spielen aber auch alte Seilschaften aus Studiums- oder Lokalpolitikzeiten. Levrat und Berset etwa sassen ab 2000 gemeinsam im kantonalen Verfassungsrat.
In den beiden Léman-Metropolen Genf und Lausanne wurde (und wird teilweise noch immer) Freiburg als rückständiger Bauernkanton belächelt. Gemäss Bundesamt für Statistik weist Freiburg tatsächlich ein Pro-Kopf-Bruttoinlandprodukt auf, das schweizweit eines der tiefsten ist. Das hat nicht nur, aber auch mit dem noch immer gewichtigen Agrarsektor zu tun. In Freiburg arbeiten 6 Prozent der Werktätigen in der Landwirtschaft, rund doppelt so viel wie im schweizweiten Durchschnitt. Sie erwirtschaften 7 Prozent der landesweiten Produktion und teilweise beinahe die Hälfte der verarbeiteten Produkte – wie etwa Käse oder Schokolade.
Dabei geht fast vergessen, dass die wirtschaftlich wichtigsten Standbeine des Kantons längst andere sind – der tertiäre Sektor trägt mehr als zwei Drittel zur Wertschöpfung bei. Angezogen von den vorteilhaften Steuersätzen, haben sich internationale Konzerne niedergelassen. Sie profitieren nicht zuletzt von lokal ausgebildeten Fachkräften. Die «Université de Fribourg» geniesst überregional einen guten Ruf und die Stadt Freiburg, wo die Studenten fast einen Drittel der Bevölkerung ausmachen, wäre ohne ihr jugendliches Gesicht undenkbar.
Dass sich zwischen dem seeländischen Kerzers und den (geografisch nicht ganz erreichten) Gestaden des Genfersees Industrie- und Dienstleistungsbetriebe ansiedeln, ist im historischen Vergleich alles andere als selbstverständlich. Freiburg ist ein klassischer «Aufholkanton», der wirtschaftliche Boom hat erst deutlich später als in anderen Gegenden eingesetzt. Und das ganz gezielt: «Die Grossindustrie war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht willkommen», sagt Historiker Jean-Pierre Dorand. Dies, weil die damals dominierende Konservative Volkspartei (eine Vorgängerin der im Kanton noch immer starken, wenn auch längst nicht mehr alleinherrschenden CVP) ideologische Konkurrenz fürchtete. «Man hatte Angst vor den sozialistischen Arbeitern und den radikalen Patrons», erzählt Dorand.
Der Sinneswandel und damit der wirtschaftliche Aufschwung setzte erst in den 1960er- und 1970er-Jahren ein. Das zog junge Familien an – Freiburg hat den tiefsten Altersdurchschnitt aller Schweizer Kantone – und spülte Geld in die Kassen. Die Kantonsfinanzen sind derart solid, dass sich zwischen zwei «bières pression» manch einer sagt, dass dafür eben die bäuerliche Mentalität verantwortlich sei. Geld gibt man nur aus, wenn man es auch hat. Tatsächlich ist der Kanton schuldenfrei – und das Finanzdepartement führt sinnigerweise ein Meisterlandwirt.
Der plötzliche Wohlstandszuwachs kam aber nicht ohne Nebenwirkungen aus. Will man sich die augenfälligste vergegenwärtigen, setzt man sich am Freiburger Busbahnhof zum Beispiel in die Linie 336. Der noble Vorort Villars-sur-Glâne mit seinen spektakulären Aussichten auf die Freiburger Voralpen zieht vorbei und bald schon ist man in Posieux, einem einstigen Bauerndorf. Längst ist es dank der attraktiven Lage auch zur Schlafgemeinde verkommen.
Besonders hübsch oder gar authentisch ist das freilich nicht anzusehen. Ein Haus reiht sich ans andere, stets mit obligatem Garagenplatz vor dem Eingang und adrett hergerichtetem Garten dahinter. Man wähnt sich in der tiefen amerikanischen Provinz – und ist doch nur eine Viertelstunde von der Kantonshauptstadt entfernt.
«Ja, es wurden raumplanerische Fehler gemacht», sagt Pascal Corminbœf, Bauer, Dialektliebhaber und trotz – oder gerade wegen – seiner Parteilosigkeit ein überaus beliebter Alt-Staatsrat. Er sieht den Grund vor allem in der früher zerstückelten Gemeindestruktur. Durch Umwandlungen von Landwirtschafts- in Bauzonen wollten sich viele ein Stück des Kuchens abschneiden – auf Kosten des intakten Ortsbilds. Dank Gemeindefusionen und einer umsichtigeren Politik auf kantonaler Ebene seien die Exzesse mittlerweile aber eingedämmt, ist Corminbœf überzeugt.
Setzt man sich in den Linienbus 336, retour à Fribourg und sieht am Horizont den eingeschneiten Berg La Berra und in der Talsenke die monumentale Kathedrale der Kantonshauptstadt, ist die Welt wieder in Ordnung. Bye-bye amerikanische Vorstadt, hallo, Freiburg. Pardon: Bonjour, Fribourg.