Kanzler der Einheit, Patriarch, «Birne»: Die Wahrnehmung Helmut Kohls schwankt zwischen Bewunderung und Spott. 16 Jahre lang regierte der CDU-Politiker Deutschland – länger als sein Idol Konrad Adenauer. Heute wird er 80 Jahre alt.
Was geht ihm wohl in diesem Moment durch den Kopf? Gezeichnet von Krankheit, im Rollstuhl, sitzt Helmut Kohl im Friedrichstadtpalast in Berlin auf dem Podium. Zu seiner Rechten George Bush senior (85) und Michail Gorbatschow (79). Es ist Ende Oktober 2009, die drei alten Herren treffen sich anlässlich einer Feierstunde zum 20.Jahrestag des Mauerfalls. Kohl war im Jahr zuvor schwer gestürzt, erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma. Jetzt fällt ihm das Sprechen schwer, sein Gesicht wirkt maskenhaft-starr. Und doch sieht man ihm die Rührung an. «Wir Deutschen haben nicht viel Grund, auf unsere Geschichte stolz zu sein», sagt er. «Ich hab nichts Besse-res, als auf die deutsche Einheit stolz zu sein.»
Die deutsche Einheit: Eine Glanzleistung
Die deutsche Einheit: Sie war Kohls grösster Triumph; seine historische Leistung, die heute selbst Kritiker und Gegner anerkennen. «89 - das war eine Glanzleistung», sagt etwa sein Vorgänger, Altkanzler Helmut Schmidt (SPD). «Kohl hat an der richtigen Stelle das Richtige getan», konzediert ihm Stefan Aust, der einstige «Spiegel»-Chef - und das, obwohl Kohl sich stets geweigert hatte, dem «Spiegel» ein Interview zu geben.
In der Tat erkannte der promovierte Historiker Kohl im richtigen Moment, dass sich mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 eine Chance zur Überwindung der Teilung Deutschlands öffnete. Entschlossen ergriff er das, was er - in Anlehnung an Bismarck - den «Mantelzipfel der Geschichte» nannte. Von Anfang an sah er die Zukunft eines wiedervereinigten Deutschland nur im Rahmen eines immer engeren Zusammenschlusses der Europäischen Union. Damit gelang es ihm, den Widerstand der britischen Premierministerin Margaret Thatcher und des französischen Präsidenten François Mitterrand zu brechen. Die Zustimmung Gorbatschows erkaufte er sich mit Milliarden von D-Mark; einzig Bush senior stand von Anfang an bedingungslos hinter der Wiedervereinigung.
Die Spendenaffäre: Kohls tiefer Fall
Zehn Jahre später dann der tiefe Fall: Die CDU versinkt im Sumpf ungeklärter Spenden und schwarzer Konten. Und Kohl, der 1998 als erster deutscher Regierungschef vom Volk abgewählt worden war, weigert sich, die Namen der anonymen Spender zu nennen. Er stellt sein Ehrenwort, das er den Spendern gegeben hat, über die Interessen der Partei,
ja sogar über Recht und Gesetz. Und nimmt es in Kauf, auf den Ehrenvorsitz der CDU zu verzichten. Doch der «Verrat» seiner Getreuen trifft ihn so schwer, dass er die Feier zu seinem 70. Geburtstag kurzfristig absagt und sich ins Elsass verkriecht. Die Frau, die damals die Ära Kohl für beendet erklärte und ihn damit vom Sockel stiess, hiess übrigens Angela Merkel. Indem «Kohls Mädchen» sich von ihrem politischen Ziehvater distanzierte, legte sie den Grundstein für ihren weiteren politischen Aufstieg.
Verehrung und Verachtung, höchste Anerkennung und bittere Kritik liegen in der politischen Karriere des heute
80-Jährigen dicht beisammen. In der Spendenaffäre wurde ihm zum Verhängnis, was ihm beim Prozess der Wiedervereinigung genützt hatte: das «System Kohl», jenes Netzwerk aus Freunden, Kontakten und Informanten, das er nicht nur auf internationaler, sondern auch auf nationaler Ebene und innerhalb der CDU geknüpft hatte. Aber auch seine bedingungslose Loyalität, die er von anderen ebenso erwartete und einforderte, wie er sie ihnen entgegenbrachte. Gegen Ende der 1980er-Jahre bekam das zum Beispiel Heiner Geissler zu spüren. Als CDU-Generalsekretär hatte er Kohls patriarchalischen Führungsstil sowie dessen zutiefst konservative, jeglichem gesellschaftlichen Wandel abgeneigte Grundhaltung kritisiert. Kohl rächte sich: Geissler wurde nicht mehr als Generalsekretär nominiert. Seither weigert er sich, mit oder über Kohl zu sprechen.
Dabei galt Kohl zunächst als Reformer, als «junger Wilder». 1969 war er - erst 39-jährig - zum Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz gewählt worden. Er war damit der jüngste Regierungschef eines deutschen Bundeslandes. In Mainz wehte fortan ein frischer Wind. Kohl scharte eigenwillige Mitarbeiter um sich, entdeckte und förderte politische Talente und stellte ein junges Kabinett zusammen, dem unter anderem Geissler und der spätere Bundespräsident Roman Herzog angehörten. Und bald war auch klar, dass der Pfälzer höher hinauswollte: 1976 stieg er - mittlerweile CDU-Vorsitzender geworden - erstmals in den Bundestagswahlkampf und forderte Helmut Schmidt heraus. «Ich will die Wahl gewinnen und Kanzler werden», verkündete er. Schmidt sagt freilich heute, er habe Kohl damals überhaupt nicht wahrgenommen.
Architekt Europas
Kohls bleibende Verdienste als Kanzler liegen in der Aussen- und der Sicherheitspolitik. Hier hat er entscheidende, weil unumkehrbare politische Leistungen vollbracht: Kohl wird nicht nur als Architekt der deutschen Einheit, sondern auch als Motor der europäischen Integration und der Osterweiterung der EU sowie als Vater des Euro in die Geschichte eingehen. Sein aussenpolitisches Ansehen blieb denn auch stets unangetastet. Dagegen war er «auf dem Feld der Wirtschafts- und Finanzpolitik kein begnadeter Politiker». So das Urteil seines Vorgängers Schmidt.
Innenpolitischer Reformstau
Und auch innenpolitisch blieb die Ära Kohl weitgehend erfolglos. Vor allem in den letzten Amtsjahren des Pfälzers blieben dringend notwendige Reformen in den Ansätzen stecken. Und zwar nicht nur, weil sich die sozialdemokratische Opposition vehement dagegen wehrte, sondern auch, weil der Kanzler nicht entschieden genug handelte. Unter diesem Reformstau, den Kohls Nachfolger Gerhard Schröder nur ansatzweise in den Griff bekommen hatte und den Angela Merkel nicht aufzulösen gewillt scheint, leidet Deutschland noch heute.
Kohl ist ein alter, gebrechlicher Mann geworden. Vielleicht auch deshalb hat sich die CDU, die ihn wegen der Spendenaffäre lange geschnitten hatte, mit ihrem Patriarchen versöhnt. Ganz verheilt sind die Wunden allerdings nicht: CDU-Chefin Merkel lehnt es ab, ihm noch einmal den Titel des Ehrenvorsitzenden zu verleihen. Doch der Ehrentitel «Kanzler der Einheit» bleibt ihm. Daran mag sich der 80-Jährige an seinem Ehrentag aufrichten.