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Menschen werden älter – aber nicht unbedingt gesünder. Altersbedingte Krankheiten wie Demenz sind auf dem Vormarsch. Während sie die Gesellschaft fordern, floriert für viele Firmen das Geschäft mit der Gesundheit im Alter.
Sie sind die «Golden-Ager». Der Wirtschaft goldene Zielgruppe. Besonders im Geschäft mit der Gesundheit. Denn: Keine Altersgruppe wächst so schnell wie die der über 60-Jährigen (siehe Grafik unten). Heute machen sie 13 Prozent der Weltbevölkerung aus.
Bis 2050 soll der Anteil auf 25 Prozent steigen, schätzen die Vereinigten Nationen. In Europa ist der Anstieg am höchsten: Hier wird bis in dreissig Jahren fast jede dritte Person über 60 Jahre alt sein. Und: Die goldene Zielgruppe, heute die Babyboomer der Nachkriegszeit, ist nicht nur zahlreich, sondern auch zahlungskräftig.
Wir werden älter. In der Schweiz liegt die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen bei 85, bei Männern bei 81 Jahren. In den 1970er-Jahren waren es für beide fast zehn Jahre weniger. Trotzdem sind altersbedingte Krankheiten auf dem Vormarsch. Für Firmen im Geschäft mit der Gesundheit eröffnen sich Milliardenmärkte.
Das Geschäft mit der Seniorenbetreuung floriert. Zahlreiche Pflegegruppen rund um den Globus haben in den vergangenen Jahren stark expandiert. In der Schweiz ist Tertianum die grösste Pflegegruppe. Sie betreibt 76 Standorte und gehört zur Immobiliengesellschaft Swiss Prime Site. Alleine in den letzten zwei Jahren hat Tertianum über verschiedene Zukäufe 32 Einrichtungen in der Schweiz übernommen.
Die Gruppe zählt 14 Altersresidenzen, 62 Wohn- und Pflegezentren und betreut über 4000 Senioren. «Den grossen Wachstumsmarkt sehen wir künftig im Mittelfeld», sagt Sprecher Roger Zintl. Das heisst, bei den Wohn- und Pflegezentren. In den kommenden Jahren will Tertianum jährlich weitere drei bis fünf Einrichtungen eröffnen. Das exklusive Segment mit Residenzbereich sei dafür eher gesättigt.
Wer intensivere Pflege braucht, der bezahlt monatlich fürs Zimmer und Hotellerie schnell mal 3000 Franken. In den Residenzen, der High-End-Pflegevariante, können diese Kosten bis zu 12 000 Franken betragen. Hinzu kommt der Pflegetarif, der ebenfalls bis zu 12 000 Franken im Monat betragen kann, wobei bei dem Tarif Krankenkasse und Gemeinde den Grossteil zahlen.
Damit lässt sich gut Geld verdienen. Tertianum hat 2016 einen Umsatz von 403 Millionen Franken erzielt. Im Vorjahr waren es noch 237 Millionen Franken. Die landesweiten Akquisitionen haben zu diesem Anstieg geführt. Die Expansion geht weiter, der Umsatz soll entsprechend zulegen.
Die Nachfrage nach Premium-Angeboten in stationären Pflegeeinrichtungen habe stark zugenommen, sagt Sebastian Krolop, Gesundheitsspezialist beim Beraterhaus Deloitte. «Heute können sich die Senioren das leisten.» Laut seinen Berechnungen soll das Marktvolumen für die Pflege in Deutschland von aktuell gut 30 Milliarden bis 2030 auf 65 Milliarden Euro ansteigen. In der Schweiz sei, im zehnmal kleineren Markt, relativ mit einem ähnlichen Anstieg zu rechnen.
Während die Pflege naheliegenderweise von der Überalterung profitiert, machen auch andere Bereiche zunehmend gutes Business mit den Senioren: die Technologiekonzerne. Auch ältere Semester sind heute technikaffiner als zuvor. Mit den Touchscreen-Geräten sei die Technologiehürde gefallen, sagt Krolop. «Heute kann daher jeder eine App benutzen.»
Die Unternehmen böten verschiedene App-Funktionen an, mit denen ältere Menschen ihre Vitaldaten, Tabletteneinnahme, Gewichtskontrolle überwachen können. Die grössten US-Apothekenketten CVS und Walgreens haben bereits verschiedene Telemedizin-Lösungen, mit denen Patienten und ihre Angehörigen die Medikamenteneinnahme überblicken können.
Immer häufiger kommen auch Spiel und Nutzen zusammen. So im Bereich der virtuellen Realität. Es gäbe bereits Angebote von Start-ups wie dies der US-Firma Rendever für den Urlaub auf dem Sofa, sagt EY-Gesundheitsexperte Stephan Ohnmacht. Viele ältere Menschen seien einsam und nicht mehr mobil, die virtuelle Reise wecke Erinnerungen im Langzeitgedächtnis, auf die sie noch zurückgreifen können. «Solche Anwendungen steigern das Wohlbefinden und fördern die Gehirnaktivität, was sich möglicherweise positiv auf Demenz auswirken kann.»
Neben den physischen Leiden ist auch Depression im Alter ein grosses Thema. Viele ältere Menschen leben isoliert, auch im Zusammenhang mit Krankheiten wie Demenz kommen Depressionen vor. Hightech-Kuscheltiere wie die Roboterrobbe Paro bringen seelische Linderung und entlasten die Pflege: Die Robbe ist flauschig und reagiert, wenn sie gestreichelt wird.
Das Forschungsinstitut für Technologie in Japan hat sie entwickelt. Im Land der «Super-Ager», wo weltweit die meisten über Hundertjährigen leben, wird sie schon länger bei Demenzpatienten eingesetzt und wirkt beruhigend anstelle von Arzneien. In der Schweiz wird die Robbe vereinzelt benützt.
In noch grösseren Dimensionen will die Pharmaindustrie an den Senioren verdienen. Wie in der Pflege ist Demenz hier das grosse Thema. Noch immer gibt es gegen die Krankheit, die weltweit 47 Millionen Menschen betrifft, kein Medikament.
Die häufigste Form der Demenz ist Alzheimer. Findet die Wissenschaft nicht bald ein Mittel, um die Krankheit zu stoppen, könnte die Anzahl der Betroffenen bis 2050 auf über 130 Millionen Menschen steigen, schätzt «Alzheimer Disease International». «Diese Krankheit ist für die Pharmaindustrie ein Zukunftsmarkt mit grossem Absatzpotenzial», sagt Experte Ohnmacht.
Das haben auch die Schweizer Konzerne Roche und Novartis verstanden. Roche hat zwei Wirkstoffe in der zulassungsrelevanten Forschungsphase. Beide Studien sollen 2020 Ergebnisse vorlegen. Die Konkurrenten sind mit ähnlichen Therapieansätzen jedoch alle gescheitert. Daher sind die Erfolgschancen alles andere als gewiss.
Auch Novartis will die heimtückische Krankheit knacken. Der Pharmakonzern arbeitet mit Konkurrent Amgen und dem amerikanischen «Banner Alzheimer’s Institute» an einem Ansatz, der die krankheitsverursachenden Proteine nicht im Gehirn angreift, sondern bereits in ihrer Entstehung hindert. Hier mussten einige Konkurrenten, zuletzt Merck im Februar 2017, ihre Studien abbrechen.
Aber: Es gibt zahlreiche Arzneien, mit denen die Branche dank der Senioren gut verdient. Die Arzneikosten bei über 65-Jährigen betrugen 2016 in der Schweiz drei Milliarden Franken. Das ist fast die Hälfte der sieben Milliarden, die 2016 für Arzneien total ausgegeben wurden (siehe Grafik). Spitzenreiter unter den Kostenverursachern sind Krebs- und Immun-Präparate.
Andere Bereiche, wie altersbedingte Augenkrankheiten, werden zunehmen. Allen voran die Makuladegeneration, die Veränderung im Zentrum der Augennetzhaut. Sie ist die häufigste Ursache für Sehbehinderungen im Alter. Laut Experten soll dieser Markt bis 2026 auf über sieben Milliarden Dollar anwachsen. Das Feld teilen sich hauptsächlich Novartis und Roche, die beide Lucentis vertreiben, sowie der US-Konzern Regeneron mit Vermarktungspartner Bayer für die Arznei Eylea.
In der Schweiz zählten beide Augenmittel 2016 zu den 15 teuersten Medikamenten. Beide Arzneien, Lucentis und Eylea, haben ihren Konzernen 2016 gut drei Milliarden Dollar eingebracht. Nun will Novartis mit einer neuen Wirkstoffgeneration den Markt aufmischen. Der Hoffnungsträger heisst RTH258. Wie jüngste Daten einer Vergleichsstudie mit Eylea zeigen, wirkt die neue Arznei bei über der Hälfte der Patienten gleich gut, wobei diese Patienten nur noch alle zwölf statt acht Wochen eine Injektion ins Auge bekamen.
Mit dem Vorteil will Novartis der Konkurrenz frühestens 2019 Marktanteile streitig machen. Die «Golden-Ager» werden dabei eine wichtige Rolle spielen.