Wildtiere
Luca Fumagalli ist der Schweizer Wolfsdetektiv - ein Besuch im Labor des Mannes, dank dem die Schweiz weiss, wie viele Wölfe es gerade gibt im Land

Der Biologe Luca Fumagalli heftet sich in seinem Lausanner Labor auf die Fersen der Schweizer Wölfe. Seit über 20 Jahren sucht er nach DNA-Spuren der Tiere. Was er herausfindet, kann über Leben und Tod entscheiden.

Dominic Wirth
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Der Wolfsdetektiv und die Wolfskulptur: Forscher Luca Fumagalli auf dem Gelände der Universität Lausanne.

Der Wolfsdetektiv und die Wolfskulptur: Forscher Luca Fumagalli auf dem Gelände der Universität Lausanne.

An der Türe zum Raum, den nur die Wolfsdetektive betreten dürfen, klebt ein Zettel, «beschränkter Zugang» heisst es darauf. Drinnen, am Fenster, gibt es noch einen Zettel, «bitte die Fenster nicht öffnen, Kontaminationsgefahr» steht dort. Es gibt nicht viele und nicht vieles, das in den Raum 3218 im Gebäude Biophore an der Universität Lausanne darf. Selbst frische Luft ist hier nicht erwünscht. Und das gilt auch für die Putzfrau.

Nur ein paar wenige Menschen haben Zutritt zum Raum 3218. Einer von ihnen ist Luca Fumagalli. Er trägt ein Hemd und die Frisur eines Mannes, der sich aus solchen Dingen nicht viel macht. Mit Fumagalli fing alles an. Der Biologe ist der erste Wolfsdetektiv der Schweiz. Seit über 20 Jahren heftet er sich in Lausanne schon an die Fersen des Wolfs. Aber so viel zu tun wie jetzt hatte er noch nie.

Im Raum 3218 stehen Pipetten und Ethanolflaschen. Es gibt verschiedene Maschinen und Röhrchen, die in Haltern stehen. Und dann gibt es Kühlschränke, in denen sich Schätze verbergen. Fumagalli öffnet einen von ihnen. Zieht einen Behälter aus einer Schachtel, in dem ein Fellknäuel steckt. «Mit so etwas fangen wir an», sagt er dann.

Die Spurensuche kann bis zu fünf Wochen dauern

Der Wolf war in der Schweiz einst ausgerottet. In den 1990er-Jahren wanderte er wieder ein. Ein wildes Tier kam in ein Land, das zwar stolz auf seine Natur ist. Aber wie viel Wildnis die Schweiz sich zumuten will, ist bis heute eine heiss diskutierte Frage. Und seit die Wolfspopulation rasch wächst, wird sie immer emotionaler diskutiert.

Der Wolf ist wild im wahrsten Sinn des Wortes: Er ist scheu und klug, aber auch instinktiv; der Mensch bekommt ihn fast nie zu Gesicht. Aber natürlich hinterlässt auch der Wolf seine Spuren: Kot und Urin. Fell. Speichelreste an gerissenen Schafen oder Hirschen.

Scheu, klug, instinktiv: M92, der berüchtigte Leitwolf des Beverin-Rudels, mit einem gerissenen Reh.

Scheu, klug, instinktiv: M92, der berüchtigte Leitwolf des Beverin-Rudels, mit einem gerissenen Reh.

Amt für Jagd und Fischerei Graubünden

Hier kommt Luca Fumagalli mit seinem Team ins Spiel. Jede Woche trifft ein Paket im Büro des Tessiners ein. Darin sind 20 Proben abgepackt, Kothaufen etwa, Fellbüschel oder Tupfer, an denen Speichelspuren kleben. Die Proben kommen von den Wildhütern aus den Kantonen. Sie haben sie im Feld gesammelt. Und wollen nun wissen, um was für ein Tier es sich handelt, damit sie einigermassen den Überblick behalten können, welche Wölfe gerade bei ihnen unterwegs sind. Und was sie so treiben.

Fumagallis Aufgabe ist es, die Frage zu beantworten. Ohne ihn hätte die Schweiz beim Umgang mit dem Wolf keine Augen und keine Ohren, weil sie nicht einmal wüsste, wie viele Tiere es gibt im Land. Er ist der Mann, der für die Wissenschaft steht. Sie ist das In­strument, mit dem ein hoch entwickeltes Land der Wildheit begegnet.

Es gibt wenig DNA-Fragemente, und die sind in schlechtem Zustand

Der Schlüssel liegt dabei in den DNA-Fragmenten, die an den Proben haften. Doch es gibt ein gewichtiges Problem: Es gibt nicht viel DNA. Und was an Kot oder Speichel klebt, ist oft in einem schlechten Zustand, weil da Regen war, Sonne vielleicht. Das macht die nicht-invasiven genetischen Analysen um einiges aufwendiger als jene, an denen die Probe direkt vom Tier genommen wird, etwa über das Blut.

Deshalb muss der Raum 3218 sauber bleiben. Dort wird zuerst mit Tuben und Filtern und Lösungen hantiert, bis die DNA isoliert in einer Flüssigkeit vorliegt. Später kommen die Proben in Maschinen, sie werden dort aufbereitet, das Ziel: mehr DNA. Dann wird analysiert, um welche Tierart es sich handelt. Später, um welches Individuum. Bis zu fünf Wochen kann das alles dauern, und es ist nicht so, dass es den Lausanner Forschern immer gelingt, aus den paar DNA-Resten ein DNA-Profil – einen genetischen Fussabdruck, wie Fumagalli es nennt – anzulegen. «Unsere Erfolgsquote beträgt 60 Prozent», sagt er.

Das Labor der Wolfsdetektive: Raum 3218 im Biophore-Gebäude der Universität Lausanne.

Das Labor der Wolfsdetektive: Raum 3218 im Biophore-Gebäude der Universität Lausanne.

dow

Wenn Fumagalli ein Profil hat, dann gleicht er es ab mit seiner Datenbank. Und wenn er dort keinen Treffer findet, steht fest, dass in der Schweiz ein neuer Wolf unterwegs ist. Fumagalli gibt ihm dann einen Namen, M92 zum Beispiel: M für männlich, 92 für das 92. männliche Tier, das hierzulande genetisch nachgewiesen werden konnte.

285 Wölfe hat Fumagalli bis heute identifiziert

Als der Bund Luca Fumagalli Ende der 1990er-Jahre den Auftrag erteilte, dem Wolf nachzuspüren, war es ein seltenes Ereignis, wenn ein neues Tier auftauchte. Heute ist das anders. Rund 285 Tiere hat der Biologe mittlerweile identifiziert, die meisten in den letzten Jahren. Manche waren nur auf der Durchreise. Andere sind in der Schweiz sesshaft, gehören einem Rudel an.

1999 kamen noch gut zwei Dutzend Proben pro Jahr in seinem Labor an. Zuletzt waren es über 700, und längst gelangt nicht mehr alles, was die Kantone sammeln, auch nach Lausanne. Schon vorher findet eine Auswahl statt. «Wir laufen auch so am Limit unserer Kapazitäten», sagt Fumagalli. 160000 Franken erhält die Universität jährlich vom Bund, um die Analysen durchzuführen.

In den letzten Wochen hat der Bund mehrere Abschussgesuche für Jungwölfe bewilligt. In der Waadt, im Wallis und in Graubünden dürfen nun Rudel verkleinert werden. In Graubünden ist das letzte Woche schon passiert. Da hat der Kanton zwei Tiere des berüchtigten Beverin-Rudels abgeschossen.

Es liegt nahe, dass nun auch Proben dieser Tiere zu Fumagalli nach Lausanne geschickt worden sind. Doch der Forscher weiss das nicht. Jede Probe gelangt ohne einen Hinweis, woher sie stammt und was ihre Geschichte ist, zu ihm. Für den Wolf kann es in Fumagallis Labor um Leben und Tod gehen: Dann nämlich, wenn er als Tier identifiziert wird, das sich so verhält, dass von Gesetzes wegen ein Abschuss möglich wird.

Die Politik soll keine Rolle spielen, aber sie schwebt doch über allem

Fumagalli sagt, daran denke er nicht. Er versucht mit aller Macht, die Politik aus seiner Arbeit fernzuhalten. Zum Jagdgesetz und den Abschussregeln, die sich darin finden und die zuletzt gelockert wurden, mag er sich nicht äussern. Er sagt sogar, er kenne es nicht so genau. «Meine Aufgabe ist es, Wissen zu liefern. Die Entscheide sollen dann andere fällen», sagt er.

Natürlich ist die Politik, sind die Emotionen, die der Wolf auslöst, trotzdem allgegenwärtig. Denn es sind auch Fumagallis Ergebnisse, welche die Debatte um den Wolf befeuern. Längst hat sich gerade in den Wolfskantonen Graubünden und Wallis vielerorts die Meinung durchgesetzt, dass jeder zusätzliche Wolf einer zu viel ist. Das weiss auch Fumagalli, der sagt, er wolle mit seiner Forschung helfen, die Debatte wenigstens ein Stück weit zu versachlichen.

In seinem Büro mit Blick auf den Genfersee hat der Tessiner Bilder und Zeichnungen von Tieren aufgehängt; auch ein paar Wölfe sind dabei. Draussen in der Natur hat er noch nie einen gesehen. Ins Feld, sagt Fumagalli, fahre er nur, um sich zu vergnügen. Für die Arbeit aber bleibt er im Labor.

Der Unmut bei Bauern und Hirten wird immer grösser

Am Freitag zünden Bündner Bauern und Hirten ein Dutzend Mahnfeuer an. Sie wollen damit auf die Ausbreitung von Problemwölfen hinweisen. Die Aktion zeigt, wie emotional die Wolfsdebatte in Graubünden gerade geführt wird. Dort leben schweizweit die meisten Wölfe und sieben Rudel, darunter jenes vom Piz Beverin. Es sorgt schon länger für Schlagzeilen, weil es als erstes einen Esel und zudem mehrfach in geschützten Herden Tiere riss. Zuletzt näherten sich Beverin-Wölfe Menschen auf problematische Art an. Letzte Woche bewilligte der Bund ein Gesuch des Kantons Graubünden, drei Jungwölfe des Rudels abzuschiessen. Auch Gesuche aus dem Wallis und der Waadt wurden bewilligt. Im Juli trat die neue Jagdverordnung in Kraft. Sie erleichtert den Abschuss von Jungwölfen und ermöglichst erstmals auch jenen von Elterntieren.

Die Zahl der Tiere in der Schweiz ist in den letzten Jahren stark gestiegen. 2020 gab es laut der Fachstelle Kora 105 Tiere im Land; zehn Jahre zuvor waren es erst neun gewesen. Rudel existierten damals noch keine. Heute sind es bereits elf. Die Gruppe Wolf Schweiz fordert vor dem Hintergrund der wachsenden Population und der gelockerten Abschussregeln, dass mehr Mittel ins Wolfsmonitoring fliessen sollen. Das sei wichtig, um saubere Entscheide treffen zu können. (dow)