Familie 2030
Wieso die Überalterung der Bevölkerung kein Schreckgespenst ist

Wie ein Schreckgespenst schwebt das Szenario «Überalterung der Schweizer Bevölkerung» über uns. Doch die Überalterung der Bevölkerung birgt auch Chancen. Eine Studie der Universität Zürich legt den Fokus auf das Potenzial von Senioren

Karen Schärer
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Ältere Menschen werden sich in Zukunft noch aktiver am familiären und gesellschaftlichen Leben beteiligen können.Martin Rütschi/Keystone

Ältere Menschen werden sich in Zukunft noch aktiver am familiären und gesellschaftlichen Leben beteiligen können.Martin Rütschi/Keystone

Vorstösse im Parlament, welche den Begriff Überalterung enthalten, thematisieren ausschliesslich Probleme. Etwa die Situation der «Sandwich-Generation», die sich jahrelang um die pflegebedürftigen Eltern kümmern muss, kaum sind die eigenen Kinder aus dem Haus. Oder drohende Finanzprobleme des Staates aufgrund künftiger höherer Ausgaben bei den Sozialversicherungen.

Doch die Überalterung der Bevölkerung birgt auch Chancen. Davon ist Soziologe Klaus Haberkern von der Universität Zürich überzeugt. Im Auftrag der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat er die Zukunft der Familie und insbesondere die Rolle von Senioren bis 2030 untersucht. Haberkern plädiert für einen viel positiveren Zugang zum Begriff Überalterung. «Im öffentlichen Diskurs wird das Älterwerden der Gesellschaft immer als negative Entwicklung und als Belastung für Familien, Gesellschaft und Sozialstaat dargestellt.

Doch das Potenzial, die Fähigkeiten und die Mittel der Senioren werden übersehen», sagt Haberkern. Es sei ein Fehlschluss zu glauben, ältere Menschen seien in Zukunft in gleicher Art «alt» wie die heutigen älteren Menschen. Die 80-jährigen der Zukunft würden viel fitter sein und weniger Unterstützung brauchen, ist Haberkern überzeugt. «Schon heute leisten ältere Menschen mehr Unterstützung an Angehörige und freiwilliges Engagement, als sie erhalten, und in Zukunft werden sie sich noch aktiver am familiären und gesellschaftlichen Leben beteiligen und sich einbringen können.»

Technik für Senioren

Zudem habe der technologische Fortschritt bisher die Senioren nicht erreicht. Hier gebe es riesiges Marktpotenzial, sagt Haberkern und verweist darauf, dass künftige Senioren kaum Berührungsängste gegenüber technologischen Hilfsmitteln kennen werden, da sie die technologische Revolution mitgemacht haben. Konkret könnten Computerprogramme oder Roboter in der Pflege den sich abzeichnenden Fachkräftemangel entschärfen. Demente werden dank technologischen Hilfsmitteln den Alltag besser meistern können. Technologie dient jedoch nicht nur der Kosteneinsparung, betont der Soziologe. «Der Einsatz von Technik wird mehr ‹Quality time› in der Pflege ermöglichen.»

Heute zählt man darauf, dass die Betreuung und Pflege von alten Menschen durch nahe Verwandte geleistet oder zumindest organisiert wird. Doch mit Verweis auf den hohen Anteil an Scheidungen sagt Haberkern: «Der Anteil an alternativen Familienformen, wie etwa Einelternfamilien, Patchworkfamilien oder Regenbogenfamilien, wird noch zunehmen.»

Diese gesellschaftliche Entwicklung wird die Solidarität im Alter, wie wir sie heute kennen, auf die Probe stellen. Denn wenn die Zusammensetzung einer Familie nicht von Dauer, sondern den Touch eines Abschnitts im Leben hat, können pflegebedürftige Elternteile auch weniger darauf zählen, dass ihre Kinder oder Stiefkinder sie unterstützen.

Für die Schweiz, deren klassische Familiengesetzgebung sich am biologischen Kern der Familie orientiert, stellen die instabileren familiären Bande demnach eine Herausforderung dar. «Es macht nicht viel Sinn, an der klaren Definition von Familie festzuhalten, wenn ein immer kleinerer Anteil der Bevölkerung dauerhaft in dieser Konstellation lebt», sagt Haberkern.

Damit unsere Gesellschaft auch in einem Zeitalter der «befristeten Familie» funktionieren kann, plädiert der Sozialwissenschaftler dafür, zu überdenken, wer Rechte und Pflichten haben soll und wem zu gesetzlichen Unterstützungsleistungen Zugang gewährt werden soll. Denn die Dynamik in den familiären Konstellationen hat Auswirkungen auf verschiedene Bereiche wie Kinderbetreuung oder eben Altenpflege.

Elterngeld für den Nachbarn

Anhand eines konkreten Beispiels illustriert Haberkern, wie ein individualisierter Zugang zu Sozialleistungen aussehen könnte: In Ländern, die eine längere bezahlte «Elternzeit» nach der Geburt eines Kindes kennen, könnte eine Mutter, die ihr Kind zwar nicht in eine Kindertagesstätte geben will oder kann, aber ihre eigene berufliche Laufbahn auch nicht unterbrechen will, ihren Anspruch auf Elterngeld oder Erziehungszeit beispielsweise auf Grosseltern oder Nachbarn übertragen, die (unter eigenen finanziellen Einbussen) die Betreuung des Kleinkindes übernehmen. «Die biologischen Eltern könnten einzelne Rechte den Personen übertragen, die wirklich die Sorge übernehmen. Im Sinne des Kindswohls sind die Menschen wichtig, die für das Kind sorgen, unabhängig davon, ob sie blutsverwandt sind oder nicht», führt Haberkern aus.