Biodiversität
Wie die Schweiz beim Naturschutz vom Vorreiter zum Schlusslicht wurde

Das Massensterben der Tierarten beschleunigt sich weiter. Die Schweiz ist in Sachen Artenvielfalt kein Vorbild, im Gegenteil. Trotz klaren Zielen des Bundesrats schwindet die Biodiversität laufend.

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Tapfere Murmeltiere betteln bei den Besuchern des Rhonegletschers. Die Schweiz tut sich schwer, ihren Lebensraum, die Natur, zu schützen.

Tapfere Murmeltiere betteln bei den Besuchern des Rhonegletschers. Die Schweiz tut sich schwer, ihren Lebensraum, die Natur, zu schützen.

Keystone

Der Befund ist verheerend: Die Erde befinde sich in einem neuen Zeitalter der «biologischen Massenvernichtung», heisst es in einer Studie von US-amerikanischen und mexikanischen Forschern. Immer mehr Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Die Ursache dieses «sechsten grossen Artensterbens» der Erdgeschichte wird klar benannt: Es ist der Mensch.

Wie sieht es in der Schweiz aus? Wir rühmen uns gerne unserer wunderschönen Landschaft und vermarkten sie kräftig als Tourismusfaktor im Ausland. Bei näherer Betrachtung präsentiert sich das Bild aber kaum besser als auf globaler Ebene. Auch bei uns verarmt die Vielfalt. Immer mehr Arten befinden sich auf der Roten Liste der akut vom Aussterben bedrohten Tiere und Pflanzen.

Der Bundesrat hat das Problem erkannt und 2012 seine «Strategie Biodiversität» zur Rettung der bedrohten Artenvielfalt verabschiedet. Seither hat er jedes Jahr einen Aktionsplan angekündigt, der noch immer auf sich warten lässt. Ein Bericht der Umweltorganisationen BirdLife Schweiz, Pro Natura und WWF Schweiz zu den Aktivitäten in Sachen Biodiversität kommt zu einem verheerenden Befund: Das Ergebnis sei «sogar noch schlechter als erwartet».

Der Étang de la Gruère im Jura: Bei den Schutzgebieten liegt die Schweiz am Schluss der Rangliste in ganz Europa.

Der Étang de la Gruère im Jura: Bei den Schutzgebieten liegt die Schweiz am Schluss der Rangliste in ganz Europa.

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Nur eines von 18 Zielen erreicht

«Die Strategie ist gut, sie enthält die richtigen Ziele», sagt Werner Müller, Geschäftsführer von BirdLife Schweiz. «Aber es sind fünf Jahre vergangen, ohne dass viel geschehen ist.» Von den 18 strategischen Zielen des Bundesrats kann laut dem Bericht nur eines bis 2020 erreicht werden, eine nachhaltigere Nutzung der Wälder. Und nur bei 14 von 120 Teilzielen sei genug getan worden, um sie zu erreichen. Bei den übrigen 106 Teilzielen sei wenig bis gar nichts geschehen.

Dabei galt die Schweiz lange als Vorreiterin beim Natur- und Umweltschutz. Der 1914 eröffnete Nationalpark im Unterengadin war der erste in Mitteleuropa. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg schritt die Schweiz in manchen Bereichen voran, etwa beim Gewässerschutz. 1971 wurde der Umweltschutzartikel in der Bundesverfassung mit 93 Prozent Ja angenommen, obwohl das Thema damals noch nicht sehr präsent war.

1983 verabschiedete das Parlament das erste Umweltschutzgesetz. In jenem Jahrzehnt war das Waldsterben zu einem dominierenden Thema geworden, weshalb gerade im Bereich der Luftreinhaltung einiges geschah. Die Schweiz verabschiedete die schärfsten Abgasvorschriften in Europa und beschleunigte so die Einführung des Katalysators in Personenwagen.

«Wir sind die saubersten Autofahrer Europas!», jubelte der damals sehr autofreundliche «Blick» 1988. Der Elan erlahmte bald, während der Wirtschaftskrise in den 1990er Jahren hatte der Umweltschutz keine Priorität mehr. Weshalb die «Berner Zeitung» 1996 mahnte, beim «einst in Umweltbelangen so fortschrittlichen Land» bestehe die Gefahr, «dass es auf den europäischen Durchschnitt zurückfällt».

Zu viel CO2-Ausstoss

Heute ist es in einigen Bereichen sogar zurückgefallen. Der CO2-Ausstoss der Neuwagenflotte lag 2016 laut dem Bundesamt für Energie bei durchschnittlich 134 Gramm pro Kilometer. Das ist deutlich mehr als im EU-Durchschnitt. Bis Ende 2015 hätte er auf 130 Gramm CO2 pro Kilometer gesenkt werden müssen, weshalb die Importeure eine Busse zahlen müssen.

Das im Mai vom Stimmvolk angenommene Energiegesetz fordert gar eine Senkung auf 95 Gramm pro Kilometer ab 2021. Angesichts der Vorliebe der Schweizer Autofahrer für schwere und PS-starke Fahrzeuge dürfte dies nur schwer zu erreichen sein. Denn auch bei den Elektroautos ist von der einstigen Vorreiterrolle der Schweiz beim Katalysator nichts mehr zu erkennen.

Noch übler präsentiert sich das Bild beim Luftverkehr. Zwischen 2010 und 2015 stieg die Zahl der Flugreisen pro Person um 43 Prozent auf 0,83 Reisen, teilte das Bundesamt für Statistik im Mai mit. Jede Person in der Schweiz legt jährlich 9000 Kilometer mit dem Flugzeug zurück.

Obwohl der Klimawandel und seine Folgen ein grosses Thema sind, hat der Umweltschutz auf der Sorgenliste der Schweizer Bevölkerung keinen hohen Stellenwert. Die Trödelei des Bundes bei der Biodiversität verwundert deshalb nur wenig. Eine Folge davon zeigt sich bei der Fläche und der Qualität der Schutzgebiete, wo die Schweiz zum Schlusslicht in Europa geworden ist.

Schutzgebietsziel wird verfehlt

Als einziges Land werde sie bis 2020 das vereinbarte Schutzgebietsziel der Biodiversitätskonvention nicht erreichen, heisst es in dem am Montag vorgestellten Bericht. Selbst Länder wie Russland oder Albanien sind besser unterwegs. Zwar hat der Bundesrat im Mai 2016 Sofortmassnahmen erlassen, doch das ist für die Umweltorganisationen nicht genug.

Rettungsplan für Leuthard

Das kann vieles heissen. Verschiedene Organisationen arbeiten deshalb an einem Aktionsplan, der auf einem 2013 von 250 Institutionen erarbeiteten Massnahmenplan beruht, wie Werner Müller von BirdLife erklärt. Die darin enthaltenen 110 Massnahmen sollten auf die 25 wichtigsten verdichtet und nach den Sommerferien Bundespräsidentin Doris Leuthard vorgelegt werden.

Auch der Bund ist alarmiert

Das ging schnell. Zwei Tage nach dem Biodiversitäts-Bericht der Umweltverbände publiziert der Bund eine Studie mit dem gleichen Fazit: Fast die Hälfte der Lebensräume und mehr als ein Drittel der Tier- und Pflanzenarten seien bedroht. Als Grund für den Schwund der Biodiversität gibt das Bundesamt für Umwelt (BAFU) den wachsenden Flächenbedarf für Wohnraum an, aber auch die intensive Nutzung von Boden und Gewässern durch die Landwirtschaft. Zum anderen werde der Druck von invasiven Arten, Mikroverunreinigungen und die hohe Belastung durch Stickstoff durch die Klimaerwärmung immer grösser. Im Rahmen der Strategie Biodiversität des Bundesrates hätten Bund und Kantone zwar verschiedene Massnahmen ergriffen. Doch das BAFU muss zugeben, dass damit der Biodiversitätsverlust nicht gestoppt, sondern nur gebremst werden konnte. (sda)

Auch die Politik erwacht langsam. Mehrere Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben in der Sommersession im Juni Vorstösse zum Thema Biodiversität eingereicht. Vielleicht gelingt es ja noch, die zunehmende Verarmung der Artenvielfalt in der Schweiz zu stoppen.