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Schweiz
Im vom Coronavirus heimgesuchten Kanton Tessin machte sich der ehemalige Kantonsarzt Ignazio Cassis rar - bis gestern.
Ein Signet mit dem Schriftzug «Chi l’ha visto?» – wer hat ihn gesehen? –, eingeklinkt in einem Bild von Ignazio Cassis. Auf sozialen Medien machte die Fotomontage zu Beginn der Coronakrise im Tessin die Runde. In Anspielung auf eine Sendung im italienischen Fernsehen, in der nach vermissten Personen gesucht wird, fragte man sich: Wo ist eigentlich unser Bundesrat Ignazio Cassis?
Zwar stellt der Kanton Tessin seit zweieinhalb Jahren endlich wieder einen Bundesrat, und erst noch einen, der jahrelang Kantonsarzt war. Aber jetzt, in der grössten Krise des Tessins seit dem letzten Weltkrieg, in einer Gesundheitskrise notabene, die im Tessin bereits über 100 Todesopfer forderte, war von ihrem Bundesrat lange wenig zu sehen. Obwohl der ausgerechnet noch einen Master in Public Health besitzt.
Und wenn Cassis doch auftauchte, dann kam das nicht nur gut an. So sagte der ehemalige Kantonsarzt am 10. März in Paris nach einem Treffen mit dem französischen Aussenminister, es mache keinen Sinn mehr, die Grenzen zu schliessen, denn das Virus sei omnipräsent.
Das war nicht die Botschaft, welche die von der Seuche besonders betroffenen Tessiner hören wollten. Sie fühlten sich von Bern wieder einmal im Stich gelassen.
Am Montag nun reiste Cassis nach Bellinzona zum Austausch mit der Kantonsregierung. Er kam nicht alleine, sondern brachte demonstrativ und im Sinne einer symbolischen Geste zwei Beatmungsgeräte mit. Sie wurden, statt direkt ins Spital geliefert zu werden, zunächst an der Medienkonferenz zur Schau gestellt, die Cassis mit dem Regierungspräsidenten Christian Vitta (FDP) gab. Der dankte für die Beatmungsgeräte und die Unterstützung aus Bern: «Dank Kontakten zu einigen Bundesräten, unter ihnen auch Ignazio Cassis», habe sich das Tessin jetzt Gehör verschaffen können in seinem Kampf gegen den Virus.
Aber die Frage, warum Cassis nicht sichtbarer sei in der Krise, wurde dem Aussenminister auch an der Medienkonferenz gestellt. Ein lokaler Journalist wollte wissen, warum Cassis eigentlich nie an den Pressekonferenzen des Bundesrats zur Coronakrise auftrete und warum er bis heute noch nie im Tessin erschienen sei.
Cassis gab an, das hänge damit zusammen, dass er Aussenminister sei und andere Regierungsmitglieder derzeit mehr im Fokus stünden.
Auf Anfrage von CH Media erklärt ein Sprecher des Aussendepartements die Rolle des Chefs so: «Bundesrat Cassis konzentriert seine Kräfte im Moment voll und ganz darauf, die Coronakrise im In- und Ausland zu bewältigen. Als Aussenminister hat er unter anderem die grösste Rückholaktion von Reisenden in der Geschichte der Schweiz lanciert.» Cassis trage dazu bei, «dass Importe deblockiert und das ausländische Gesundheitspersonal weiterhin ungehindert über die Grenze kommen kann».
Im Inland, so der Sprecher weiter, lägen «die Prioritäten aktuell vor allem bei den Gesundheits- und Wirtschaftsmassnahmen des Bundes, welche Bundesrat Cassis unterstützt und aktiv mitgestaltet. Seine Erfahrungen als Arzt bringt er im Bundesrat laufend ein und er steht in täglichem Austausch mit Gesundheitsminister Berset.» Cassis sei im Moment vor allem im Hintergrund tätig und respektiere das Kollegialitätsprinzip. Er setze sich «als Teil der Landesregierung für die Interessen der Schweiz ein, die auch die Interessen der italienischen Schweiz sind».
Cassis und seine Rolle in der Krise. Eine auffällig wohlwollende Westschweizer Zeitung schilderte den Tessiner kürzlich gleichsam als den heimlichen Gesundheitsminister. Als Denker und Lenker im Hintergrund, der Alain Berset selbstlos und bescheiden die Richtung vorgebe.
Nur hat diese Beschreibung laut Beobachtern mit der Realität wenig bis nichts zu tun. Dass Cassis derzeit eine tragende Rolle bei der Bewältigung der Coronakrise spielen soll, wird in anderen Departementen rundweg bestritten. Schlicht falsch sei auch die Behauptung, dass Cassis täglich im Austausch mit Berset stehe.