Corona-Virus
Wie ansteckend sind Kinder wirklich? Was die Wissenschaft bis jetzt dazu weiss

Es gibt keine Studien, die beim neuen Coronavirus ein erhöhtes Übertragungsrisiko durch Kinder nachweisen. Der Bund revidiert deshalb seine Einschätzung.

Andreas Maurer
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Einige Kantone stellten den regulären Betrieb der Kindertagesstätten ein, andere nicht. Der Bund gibt keine einheitliche Linie vor.

Einige Kantone stellten den regulären Betrieb der Kindertagesstätten ein, andere nicht. Der Bund gibt keine einheitliche Linie vor.

Friso Gentsch / DPA

Welche Rolle spielen Kinder bei der Verbreitung des neuen Coronavirus? Die Kommunikation des Bundesrats dazu lässt sich in drei Phasen aufteilen.

Phase 1 dauerte bis am vergangenen Freitag. Die Ansteckungsgefahr, die von Kindern ausgeht, wurde vom Bundesrat nicht als erhöht eingestuft. Deshalb liess er Schulen und Kindertagesstätten geöffnet. So wollte er verhindern, dass die besonders gefährdeten Grosseltern bei der Kinderbetreuung aushelfen.

Phase 2 begann am Freitag. Der Bundesrat schloss die Schulen und überliess den Entscheid über die Schliessung von Kindertagesstätten den Kantonen. Gesundheitsminister Alain Berset behauptete, gemäss neuen Studien würden Kinder das Virus schneller verbreiten als bisher bekannt.

Phase 3 begann am Montag. Der Bundesrat verhängte den Notstand, erklärte aber, dass die Kindertagesstätten ein Angebot aufrecht erhalten müssten. Daniel Koch, Leiter der Abteilung übertragbare Krankheiten in Bersets Gesundheitsdepartement, korrigierte danach die Einschätzung seines Chefs: Die Behauptung, Kinder würden das Virus schneller verbreiten, sei falsch. Die Treiber der Pandemie seien die Erwachsenen.

Die Entscheidungsgrundlage, die keine Grundlage für den Entscheid des Bundesrates liefert

Die Studien, die Berset zitierte, gibt es nämlich nicht. Auf Nachfrage hatte er auf den neusten Report des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten ECDC verwiesen. Das ist eine Agentur der EU, die wissenschaftliche Erkenntnissee aufbereitet. Im von Berset zitierten Bericht heisst es, man wisse nicht, ob Kinder eine wichtige Rolle bei der Übertragung der Lungenkrankheit spielen würden. Die Landesregierungen sollten deshalb vorsichtig abwägen, ob sie Schulen tatsächlich schliessen wollten.

Wie wenig man über die Verbreitungsgefahr durch Kinder weiss, sieht man in der Literaturliste des EU-Berichts. Die bedeutendste Studie zum Thema basiert auf lediglich zehn Fällen. Die Resultate sind dennoch interessant. Diese Fallstudie stammt vom Kinderspital der Fudan-Universität in Schanghai, einer der renommiertesten Hochschulen Chinas, in Zusammenarbeit mit fünf anderen Spitälern.

Die Mediziner untersuchten zehn Kinder im Alter von drei Monaten bis zehn Jahren, die am Coronavirus erkrankt waren. In allen Fällen verlief die Krankheit mild. Zwei Kinder hatten nicht einmal Fieber. Nach 24 Stunden war es bei allen verschwunden. Die jeweils höchste gemessene Körpertemperatur lag zwischen 37,7 und 39,2 Grad. Sechs Kinder hatten Husten, vier eine Halsentzündung und drei eine verstopfte Nase.

Der milde Verlauf deckt sich mit der Statistik in China: Kein Kind unter zehn Jahren ist an Covid-19 gestorben. Bei den Infizierten im Alter von 10 bis 19 beträgt die Sterberate 0,2 Prozent, bei den über 80-Jährigen 15 Prozent.

CH Media

Erwachsene sind die wahren Virenschleudern

In acht Fällen konnte die Studie nachweisen, bei wem sich die Kinder angesteckt hatten. Immer waren es Erwachsene. Sieben Kinder hatten sich zu Hause angesteckt, meist bei den Grosseltern und den Eltern. Ein Kind hatte sich auf einer Busfahrt angesteckt. Kein Kind hat sich also in einer Schule oder in einer Kindertagesstätte infiziert.

Vier Kinder hatten das Virus nicht weiterverbreitet. Sechs Kinder hatten eine bis drei weitere Personen im Haushalt angesteckt. Die Übertragungsraten bei Erwachsenen sind ähnlich.

Berset pflegt zu sagen, dass man in dieser Krise von Tag zu Tag dazu lerne. Das Problem dabei ist: Die widersprüchlichen Aussagen sorgten für Verwirrung. Weil der Bund keine einheitliche Linie vorgab, entstanden im föderalen System drei Regelungen.

Variante 1: Kantone wie Basel-Stadt und Solothurn stellten den regulären Betrieb ein, bieten aber eine Notlösung für Kinder von Eltern in systemrelevanten Berufen an.

Variante 2: Kantone wie Baselland und Zürich lassen die Kindertagesstätten geöffnet, üben aber Druck aus, dass sie nur von Eltern mit systemrelevanten Berufen genutzt werden. Das Prinzip ist also dasselbe wie bei Variante 1.

Variante 3: Kantone wie der Aargau, Luzern und St. Gallen lassen die Kindertagesstätten normal geöffnet.

Der Bundesrat revidierte seine Einschätzung. Basel-Stadt und Solothurn aber blieben bei ihren Entscheiden.