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Schweiz
Viereinhalb Jahre und 32 Verhandlungsrunden lang diskutierten die EU und die Schweiz das Rahmenabkommen. Und doch ist völlig unklar, ob das Protokoll 1 zum Lohnschutz verhandelt wurde oder nicht. Ja, sagt die EU. Nein, die Schweiz.
Die EU-Kommission hat sehr genau Buch geführt über die Treffen, Telefongespräche und Verhandlungsrunden mit der Schweiz. So sprach EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker 23mal mit diversen Präsidenten der Schweiz, darunter in acht offiziellen Treffen. EU-Kommissar Johannes Hahn traf Aussenminister Ignazio Cassis siebenmal. Total kamen die EU und die Schweiz in den letzten viereinhalb Jahren auf 32 Verhandlungsrunden. Eine «unglaubliche Intensität», wie Kommissar Hahn im Dezember 2018 sagte.
Und doch ist, selbst nach 32 Runden, nicht klar, wie weitgehend das Protokoll 1 des Rahmenabkommens diskutiert ist. Darin geht es um die flankierenden Massnahmen und um den Lohnschutz in der Schweiz.
Die EU erachtet Protokoll 1 als verhandelt. Die Kommission stellte in einer öffentlichen Erklärung vom 7. Dezember 2018 klar, dass «der finale, veröffentlichte Text, einschliesslich Annex und Protokollen, von den Verhandlungspartnern der EU und der Schweiz vereinbart wurde und das Ergebnis langer, intensiver und konstruktiver Verhandlungen ist». Und EU-Präsident Juncker betont in seinem Brief vom 11. Juni: Die Verhandlungen des Rahmenabkommens, des Annexes, der drei Protokolle und der zwei Erklärungen seien von Kommissar Johannes Hahn und Bundesrat Ignazio Cassis «abgeschlossen worden».
Die Schweiz hingegen stellt sich auf den Standpunkt, das Protokoll 1 sei nicht verhandelt. Noch am Donnerstag, 20. Juni, sagte Aussenminister Cassis auf eine entsprechende Frage im Parlament: «Die Frage ist mehr als berechtigt.» Das Protokoll 1 sei «kein Resultat von Verhandlungen». Die EU habe versucht, der Schweiz «entgegenzukommen», im Bewusstsein, «dass wir nicht bereit waren, einen Schritt zu machen».
Damit steht Aussage gegen Aussage. Und es fragt sich: Wer lügt? Die Europäische Union oder die Schweiz?
Es gab Gespräche. Das bestätigen sowohl die Schweiz wie die EU. Die Schweiz habe aber nie verhandelt, schreiben das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) auf Anfrage. Sie hätten der EU gegenüber die Notwendigkeit der flankierenden Massnahmen betont und den Inhalt erläutert. «Im Rahmen von technischen Gesprächen über den Lohnschutz.»
Für die Schweiz habe Chefunterhändler Roberto Balzaretti «nicht an diesen technischen Gesprächen teilgenommen», betonen EDA und Seco. Er sei aber «stets darüber informiert» gewesen. An den Gesprächen zugegen war Botschafter Peter Gasser, Leiter des Bereichs Personenfreizügigkeit des Seco. «Je nach Notwendigkeit», wie EDA und Seco schreiben. Ob für die EU Chefunterhändler Christian Leffler an den Gesprächen teilnahm, ist nicht klar.
Es scheint wenig wahrscheinlich, dass die Schweiz ausgerechnet das heikelste Dossier, den Lohnschutz, ohne ihren Chefunterhändler «verhandelt» hat. Es ging um eine der roten Linien der Schweiz. Dossier-Spezialist war aber zweifellos Botschafter Peter Gasser vom Seco. EU-Beamte halten fest, die sektoriell zuständigen Stellen der Schweiz hätten dem Schlussergebnis der Verhandlungen vom 23. November nicht widersprochen. Und sie seien «bei mehreren Verhandlungsrunden ebenfalls zugegen und involviert» gewesen.
Stimmte Aussenminister Ignazio Cassis am 23. November 2018 dem Rahmenabkommen inklusive Annex und Protokolle zu, wie das die EU-Kommission behauptet? «Nein, dies trifft nicht zu», schreibt Sprecherin und Diplomatin Noémie Charton. «Es handelt sich beim Protokoll 1 um ein Angebot der EU, auf das die Schweiz nie eingegangen ist.» Charton weiter: «Die EU hat im November 2018 in eigener Regie kommuniziert, dass die Verhandlungen abgeschlossen seien. Von ‹Zustimmung› kann also keine Rede sein.» Ganz anders sieht man das in der EU. Kommissar Hahn betonte an seiner Pressekonferenz vom 17. Dezember 2018, es handle sich - Annex und Protokolle eingeschlossen - um ein «finales und gemeinsames Verhandlungsergebnis».
Das EDA bestreitet, zu wenig hart verhandelt zu haben. «Die Schweizer Delegation hat das bundesrätliche Verhandlungsmandat stets eingehalten», schreibt EDA-Sprecherin Charton. «Die sogenannten roten Linien standen nie zur Diskussion.» Eine entscheidende Frage dürfte aber sein: Welche Signale hat Cassis in den Gesprächen vom 23. November 2018 gegenüber Hahn ausgesandt?
Nein, das dürfen sie nicht. Im Leitbild «Information und Kommunikation des Bundesrats und der Bundesverwaltung» heisst es, die Information von Bundesrat und Verwaltung müsse «sachlich und wahr» sein. «Unzulässig sind Propaganda, Suggestion, Manipulation, Vertuschung, Lüge und Desinformation.» Auch die EU-Kommission darf nicht lügen. «Die Europäische Kommission und ihre Mitarbeiter sind den höchsten ethischen und Transparenz-Standards unterworfen», sagt Kommissions-Sprecherin Mina Andreeva. «Das wurde auch von der internationalen Organisation OECD 2018 in ihrem Bericht anerkannt, worin die Kommission als beste Behörde abschnitt.»
EU-Beamte sehen ein deutliches Schema in der Schweizer Verhandlungstaktik: Zeit schinden. Das zeigt sich für sie an drei Beispielen. Erstens hätten sich EU-Präsident Jean-Claude Juncker und Bundespräsidentin Doris Leuthard an der Medienkonferenz vom 23. November 2017 gemeinsam auf einen Fahrplan geeinigt: Das Rahmenabkommen soll bis Frühling 2018 stehen. Ein Versprechen, das die Schweiz nicht eingelöst habe. Im November 2018 hätten sich die Schweiz und die EU nach 32 Verhandlungsrunden endlich geeinigt. Doch Ende 2018 habe sich die Schweiz plötzlich wieder von Teilen des Textes distanziert. Drittens, so die EU-Beamten, sei die Schweiz heute nicht bereit, mit dem EU-Team an den Klarstellungen zu arbeiten, die sie im Brief von Bundespräsident Ueli Maurer verlangt habe.
In der Schweiz sieht man das ganz anders. Beim Treffen zwischen Juncker und Leuthard vom 23. November 2017 sei nie die Rede davon gewesen, das Rahmenabkommen solle bis im Frühling 2018 stehen. Juncker habe dies an der Medienkonferenz eigenmächtig kommuniziert. Auch die Verhandlungen habe die EU eigenmächtig als beendet erklärt. Für die Klarstellungen brauche die Schweiz aber tatsächlich mehr Zeit für innenpolitische Gespräche.
Klar scheinen zwei Dinge. Erstens: Die Schweiz hat in den letzten viereinhalb Jahren immer wieder auf Zeit gespielt. Unter Aussenminister Didier Burkhalter blieb das Dossier lange verwaist. Ignazio Cassis nahm es zwar entschieden an die Hand, verunmöglichte aber mit seinem naiven innenpolitischen Vorgehen in Sachen Lohnschutz einen Konsens im Land und verlor mindestens ein Jahr. Offen bleiben zwei Fragen: Macht die Schweiz Schutzbehauptungen? Immerhin nahm sie an Gesprächen zum Lohnschutz teil. Und: War sie zu blauäugig und liess sich am 23. November 2018 überrumpeln, als die EU die Verhandlungen beendete?
Zweitens: Die EU ihrerseits drückt die Schweiz mit harter Machtpolitik in die Ecke. Nichts verdeutlicht das besser als die Aussage von Kommissar Hahn in seinem Schreiben an EU-Präsident Juncker, das Auslaufen der Börsenäquivalenz sei der «Warnschuss», den die Schweiz «benötige». Die EU-Kommission hat für ihre Macht-Politik einen ganzen Baukasten an Arsenalien zur Verfügung, wie ein Insider erzählt, der dies aus nächster Nähe beobachten konnte. Die Kommission sucht über akribische Medienanalysen Schwachpunkte beim Gegner (Beispiel Horizon 2020 bei der Schweiz). Sie nutzt die Medien-Korrespondenten eines Landes, um gezielt in dieses zu kommunizieren. Sie arbeitet bei diplomatischen Treffen mit Überrumpelungs-Strategien. Sie führt hinter den Kulissen Schattenverhandlungen, zum Beispiel mit der Opposition in einem Land. (Ob das in der Schweiz der Fall war, ist unklar. Wenn, dann am ehesten mit Economiesuisse oder Operation Libero, glaubt der Insider.) Und die Kommission scheut sich nicht, selbst gegen befreundete Staaten, die sich generell an alle Abmachungen halten, wirtschaftliche Sanktionen (Beispiel Schweiz mit der Börsenäquivalenz) auszusprechen.