Lehrer und Städte fordern, dass die Schweiz Kleinkinder stärker fördert. Im Parlament wächst die Bereitschaft.
Gleiche Chancen für alle, das ist ein Ziel, das sich die Schweiz setzt. So steht es in der Bundesverfassung, Artikel 2, Absatz 3. Doch vieles hängt hierzulande davon ab, in welche Familie ein Kind geboren wird. Die Weichen werden schon früh gestellt. Und prägen oft ganze Leben. Ein Beispiel: Der Nachwuchs von Akademikern hat eine siebenmal höhere Chance, die gymnasiale Maturität zu erwerben, als Kinder von geringer gebildeten Eltern. Das hält ein Bericht des Schweizerischen Wissenschaftsrats fest, der in Sachen Chancengleichheit «dringenden Handlungsbedarf» sieht.
Es war unter anderem dieser Bericht, der am Ursprung eines Vorstosses der nationalrätlichen Bildungskommission stand. Heute wird die Motion, die vom Bundesrat Massnahmen «zur Verringerung der sozialen Selektivität» - und also zur Erhöhung der Chancengerechtigkeit - fordert, im Nationalrat debattiert.
Der Vorstoss verfolgt unter anderem das Ziel, dass der Bund sich in der Förderung von Kindern, die das Kindergartenalter noch nicht erreicht haben, stärker engagieren soll. Er ist ein weiteres Signal des Parlaments, dass es hier Handlungsbedarf sieht. Zuvor hatten die Bildungskommissionen der beiden Räte schon eine Strategie zur Stärkung der frühen Förderung in Auftrag gegeben -und eine parlamentarische Initiative befürwortet, die «Chancengerechtigkeit vor dem Kindergartenalter» fordert.
Urheber dieser Initiative ist der Berner SP-Nationalrat Matthias Aebischer. Er sagt, dass sich jeder Franken, der in die Bildung, Betreuung und Erziehung von Kleinkindern fliesse, sich später mehrfach auszahle. «Wir müssen verhindern, dass gewisse Kinder schon früh in Rückstand geraten, weil sie zuhause weniger gefördert werden als andere- und später etwa in der Sozialhilfe landen», sagt der Berner.
Der Ruf nach einer «Politik der frühen Kindheit», wie die Schweizerische Unesco-Kommission sie nennt und auch fordert, wird im Bundeshaus immer lauter. Und die Politiker rennen vielerorts offene Türen ein. Zum Beispiel bei den Schweizer Lehrern. Die neue Präsidentin des Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, Dagmar Rösler, forderte im Interview mit dieser Zeitung, dass bei Förderung der 1- bis 4-Jährigen «etwas geschehen» müsse. Dies, weil vermehrt Kinder in den Kindergarten kommen, die nicht richtig Deutsch sprechen könnten oder nicht sozialisiert seien.
Es ist nicht so, dass heute in Sachen Frühförderung nichts passieren würde. Gerade in den Städten gibt es bereits eine Vielzahl von Angeboten, von Spielgruppen über Kindertagesstätten bis zu Familienbegleitungen oder Hausbesuchsprogrammen. Allerdings sind die regionalen Unterschiede gross. Das kritisiert Nicolas Galladé, Sozialvorsteher der Stadt Winterthur und Präsident der «Städteinitiative Sozialpolitik», zu der alle grossen Städte der Schweiz gehören. «Es kann nicht sein, dass der geografische Zufall entscheidet, ob ein Kind gefördert wird», sagt Galladé.
Die Städteinitiative Sozialpolitik fordert deshalb mehr Geld für die frühkindliche Bildung von Kantonen und vom Bund. Und sie fordert auch ein Frühförderungs-Konkordat, in dem die Kantone auf ein Grundangebot und gewisse Mindeststandards festlegen. Damit nicht genug: Die Städte sprechen sich gar für einen Verfassungsartikel aus, der die gemeinsame Verantwortung von Bund, Kantonen, Städten und Gemeinden formuliert. Heute reagiert der Bund auf die parlamentarischen Vorstösse auch aus föderalistischen Gründen noch zurückhaltend.
Als Vorreiter in Sachen Frühförderung gilt Basel-Stadt. Dort gibt es seit 2013 das Konzept «Frühe Deutschförderung». Per Fragebogen werden eineinhalb Jahre vor dem Kindergarteneintritt die Deutschkenntnisse fremdsprachiger Kinder ermittelt. Wenn diese nicht genügen, müssen die Kinder an mindestens zwei halben Tagen pro Woche eine Spielgruppe oder ein Tagesheim besuchen. Das soll einen guten Start in die Schulzeit ermöglichen. Die Kosten für den Besuch in einer Spielgruppe übernimmt der Kanton.