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Schweiz
Die Rezession lässt in vielen Ländern Rufe nach Abschottung und Protektionismus erschallen. Eine wirtschaftsnationalistische Politik würde geradewegs ins Elend führen. Doch die Coronakrise bietet Gelegenheit, Exzesse der Globalisierung auszumerzen.
Als Kantonsschüler habe ich nicht nur jedes Buch von Franz Hohler verschlungen, sondern bin ihm auch auf seiner kabarettistischen Tournee gefolgt. Einmal schilderte der Mann mit dem Cello die Reise einer Kartoffel vom Feld bis auf den Teller. Die Details habe ich vergessen, aber die Geschichte ging etwa so: Die Kartoffel wird in Deutschland geerntet, mit dem Lastwagen nach Italien gefahren und gewaschen, weil es dort billiger ist, bis sie nach tausenden von Kilometern in der Schweizer Küche landet. Hohler entlarvte damit auf erzählerische Weise die ökonomische Logik als das, was sie war: Eine Absurdität.
Das war vor vielleicht 25 oder 30 Jahren, die Berliner Mauer war gefallen, die Globalisierung nahm Fahrt auf. Hohlers Geschichte kam mir bei der Lektüre des aktuellen «Economist» in den Sinn. «Goodbye Globalisation» steht auf dem Cover. Die «grossartige Ära der Globalisierung» gehe zu Ende, stellt das Leitmedium der globalisierten Elite besorgt fest.
Tatsächlich hat uns die Coronapandemie zumindest vorübergehend in eine Zeit weit vor der Globalisierung zurückgeworfen. Am Schweizer Himmel wurden im April so wenige Flugzeuge gezählt wie zuletzt im Jahr 1952. Einkaufen ennet der Grenze geht nicht mehr. Stattdessen bilden sich Warteschlangen vor den Bauernhofläden. Ueli Maurer appellierte zum Ferienmachen in der Heimat:
Die Schweiz ist so ein wunderschönes Land, mit dem besten Wein, dem besten Bier und dem besten Brot – was wollen wir noch mehr.
Heidi-Romantik wehte in den vergangenen Wochen durchs Land. Autarkie und Selbstversorgung, am besten mit Bioprodukten – das weckte von linksgrün bis zur SVP wohlige Gefühle. In dieser Stimmungslage fordert die SP nun eine «Reindustrialisierung» der Wirtschaft und eine Verpflichtung der Pharmafirmen, im Inland zu produzieren.
Die CVP will den Selbstversorgungsgrad nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch in der Landwirtschaft erhöhen. Die Grünen fordern ein Impulsprogramm, um «regionale Wirtschaftskreisläufe» zu stärken. Selbst der Bundesrat springt auf den Zug auf: Wirtschaftsminister Guy Parmelin (SVP) schlug vor, Schweizer Firmen bei öffentlichen Ausschreibungen zu bevorzugen.
Die Fülle von Forderungen zeigt: Eben waren alle Virologen, nun sind sie alle Ökonomen. Die Sorgen über die Wirtschaft, die in eine tiefe Rezession gestürzt ist, haben die Sorgen über die Gesundheit abgelöst. Doch Panik führt in der Wirtschaftspolitik ebenso in die Irre wie in der Gesundheitspolitik.
Globalisierung, freier Handel und durchlässige Grenzen haben der Schweiz, aber auch den Entwicklungs- und Schwellenländern, in den letzten drei Jahrzehnten Wohlstand und Lebensqualität gebracht. Jetzt aus dem Corona-Schock heraus alles umzukehren, wäre falsch.
Der Lockdown führte ja nicht nur zu einem Himmel ohne Kondensstreifen, sondern auch zum Stillstand des Tourismus, der Uhren- und Maschinenindustrie. Wirtschaftsnationalismus und Protektionismus schaden allen Ländern und der Schweiz als kleiner Exportnation ganz besonders.
Zugleich ist auch wahr, dass die Globalisierung seit der Kartoffel-Erzählung von Franz Hohler nicht nur Absurditäten, sondern auch Obszönitäten hervorgebracht hat. Sie wurden spätestens in der Finanzkrise 2008 offensichtlich. Die Umwelt und der soziale Zusammenhalt haben gelitten.
Es war mitnichten alles «grossartig», sonst hätten disruptive Politiker wie Donald Trump oder Boris Johnson keine Chance gehabt.
Ein bisschen weniger Globalisierung ist darum o.k. Wenn die aktuelle Grosswetterlage dazu beiträgt, künftig Exzesse zu verringern, dann geht die liberale Wirtschaftsordnung gar gestärkt aus der Coronakrise hervor.
O.k. ist auch, wenn der Bundesrat die Interessen des eigenen Landes mehr gewichtet. Switzerland first – was ist daran falsch? «First» heisst «zuerst», nicht «allein». Allein kann die Schweiz nicht zuerst sein. Das kann sie nur, wenn sie weltoffen bleibt.