Gesundheit
Weitere Krankenkassen planen umstrittene Belohnungs-App für fitte Kunden

Nach Helsana planen weitere Krankenkassen umstrittene Belohnungs-Apps für fitte Kunden. Wissenschafter kritisieren die Rolle des Bundesamtes für Gesundheit. Das letzte Wort dürften die Richter haben.

Lorenz Honegger
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Fitte Kunden sollen per App Belohnungen bei ihrer Krankenkasse einfordern können.

Fitte Kunden sollen per App Belohnungen bei ihrer Krankenkasse einfordern können.

Keystone

Wer täglich Fastfood isst, raucht und sich kaum bewegt, zahlt in der Schweiz die gleichen Versicherungsprämien wie ein durchtrainierter Sportler. Auch chronisch Kranke mit Hunderttausenden Franken Gesundheitskosten zahlen nicht mehr als jemand, der noch nie im Spital war. Das Solidaritätsprinzip gilt als Grundpfeiler der obligatorischen Krankenpflegeversicherung.

Seit vergangenem September ritzt die zweitgrösste Krankenversicherung der Schweiz dieses Prinzip: Die Helsana belohnt Kunden, die regelmässig joggen, ein Fitness-Abo haben oder in die Ernährungsberatung gehen und das auf ihrem Smartphone dokumentieren – auch wenn sie nur eine Grundversicherung haben.

Illustration: Silvan Wegmann

Bis zu 75 Franken jährlich erhalten fitte Versicherte als Bonus in einem Punktsystem. Damit bricht Helsana bei der Jagd nach gesunden Versicherten – sogenannt «guten Risi-
ken» – ein Tabu. Im Zentrum der Kontroverse steht die Frage, ob in Zeiten von jährlich ansteigenden Prämien Personen mit einem weniger gesunden Lebensstil mehr für die obligatorische Krankenversicherung bezahlen sollen.

Schon bald dürfte sich das Bundesverwaltungsgericht mit der Frage befassen müssen. Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte Adrian Lobsiger hat die Helsana vor einer Woche faktisch aufgefordert, ihr Bonusprogramm für Grundversicherte einzustellen. Er kritisiert, der Helsana fehle die Gesetzesgrundlage für diese Prämienverbilligung und somit die damit verbundene Datenbearbeitung.

Helsana als Winkelried

Die Versicherung lehnt die Aufforderung ab und will einen Grundsatzentscheid erzwingen. Lobsiger kündigt deshalb auf Anfrage an, innerhalb von einem Monat nach Ablauf der 30-tägigen Frist Klage einzureichen. Helsana spielt den Winkelried für die Versicherungsbranche.
Der Entscheid des Gerichts wird Signalwirkung haben. Sollte sich die Helsana durchsetzen, wollen gemäss Recherchen zahlreiche Mitbewerber ihrem Beispiel folgen und künftig Prämienzahler mit gesundem Lebensstil belohnen. Datenschützer Lobsi-
ger bestätigt: «Es gibt Anzeichen, dass auch andere Versicherungen bei der Grundversicherung Bonusprogramme einführen wollen.»

Ein Verwaltungsrat einer der grössten Krankenversicherer berichtet, die Branche verfolge den Fall Helsana mit «Argusaugen». Man wolle der Konkurrenz nicht kampflos einen Wettbewerbsvorteil zugestehen und sei vorbereitet: Im Fall einer gerichtlichen Bestätigung des Bonusprogramms könne man «innert kürzester Zeit» ein ähnliches Angebot für die Grundversicherung auf die Beine stellen. «Technisch ist das überhaupt kein Problem.»

Offiziell geben sich die Versicherer zurückhaltender. Die drittgrösste Krankenversicherung der Schweiz etwa, die Swica, teilt mit, sie werde den Entscheid abwarten und danach beurteilen, welche Vorteile sich daraus ergeben könnten. «Wichtig scheint uns eine Balance zwischen Eigenverantwortung und Solidarität.» Die CSS, die mit ihrer App zu den Pionieren bei den Bonusprogrammen gehört, zögert mit einer Ausdehnung auf die Grundversicherung: «Nein, das planen wir derzeit nicht. Unsere Schrittentschädigung bleibt ein freiwilliges Angebot der Zusatzversicherung.»

Begeisterte App-Nutzer

Weniger zurückhaltend sind die Kunden. Die Helsana verzeichnete für ihre App mittlerweile über 50 000 Downloads. Erste Reaktionen zeigen, dass die stärkere Gewichtung der Eigenverantwortung einen Nerv trifft. «Endlich eine Idee, die mir als gesunder Helsana-Kunde etwas zurückgibt», schreibt iPhone-Nutzer Andrew B. in seiner Bewertung im App-Store und gibt «Helsana+» fünf von fünf Sternen. «Etwas für Kunden, die sich und ihrem Körper schauen, statt Kosten zu verursachen», resümiert Flo76. Nutzerin Sonita S. meint: «Als Kundin habe ich lange auf diese App gewartet. Einfach in der Bedienung – und das Beste: Ich werde für das Achten meiner Gesundheit noch belohnt! Was will man mehr?»

Für Heidrun Becker, Professorin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und Leiterin einer Studie zum Thema Fitness-Apps, belegen solche Kommentare das Diskriminierungsrisiko von Apps wie «Helsana+». Viele Versicherte verstünden solche Programme falsch. «Manche fragen sich, warum sie für jemanden mitbezahlen sollen, der ungesund lebt; sie übersehen dabei, dass jeder Mensch jederzeit unabhängig von seinem Lebensstil schwer erkranken kann.»

Becker übt Kritik am Bundesamt für Gesundheit (BAG), das die Belohnungs-App lediglich als «harmloses Marketing-Instrument» sehe.

Die Aufsichtsbehörde hat der Helsana-App in einem Schreiben, das dieser Zeitung vorliegt, Mitte Februar einen juristischen Blanko-Check ausgestellt: Solange die 75-Franken-
Belohnungen nicht aus dem Geldtopf der Grundversicherungs-Prämien finanziert werden, sei die App aus aufsichtsrechtlicher Sicht konform mit dem Krankenversicherungsgesetz. Der Verzicht auf die Teilnahme am Bonusprogramm führe für versicherte Personen zu keiner Benachteiligung, «sodass für sie eine Teilnahme nicht als zwingend erschei-
nen müsste».

Kritik am BAG

Für Kurt Pärli, Professor für soziales Privatrecht an der Universität Basel, hinkt diese Argumentation. Wer als Grundversicherter der Helsana nicht am Bonusprogramm teilnehme, erhalte die 75 Franken Belohnung nicht. «Das ist ein entgangener Vorteil und damit ein effektiver Nachteil.» Deshalb ritze «Helsana+» am Solidaritätsprinzip der Grundversicherung, auch wenn die Helsana die Belohnung aus den Mitteln der Zusatzversicherung finanziere.

Entscheidend ist auch die Frage: Was bringen die Fitness-Apps den Krankenkassen überhaupt? Die ZHAW-Studie von Forscherin Becker attestiert den «Quantified Self»-Technologien ein grosses Potenzial (siehe auch Kasten rechts). Doch ob die Nutzer solcher Apps wirklich gesünder leben und seltener krank werden, sei unklar. Es fehlten auch verbindliche Qualitätsstandards. Die Selbstvermessung könne bei den Nutzern den falschen Eindruck erwecken, dass jedes Individuum seinen Gesundheitszustand jederzeit bestimmen und kontrollieren könne.

Die Chancen und Risiken der digitalen Selbstvermessung

Elektronische Armbänder sind im Trend: Sie zählen die Anzahl Schritte, verbrannte Kalorien, eruieren die Länge und Tiefe des Schlafes und die Herzfrequenz. Die Idee dahinter ist simpel: Wer viel über sich weiss, erkennt unter Umständen drohende Krankheiten früher und dürfte generell dazu neigen, einen gesunden Lebensstil zu pflegen. Ärzte können dank medizinischer Daten in Echtzeit die Patienten viel enger begleiten als bisher. Auch für die Forschung sind die erhobenen Informationen potenziell interessant.

Die digitale Selbstvermessung bietet aber auch viele Risiken, wie das Beispiel der Krankenversicherungen zeigt. Die Stiftung für Technologiefolgen- Abschätzung TA-Swiss veröffentlichte vor kurzem eine Studie zum Thema «Quantified Self». Die Autoren beurteilen es kritisch, dass sich immer mehr kommerzielle Akteure wie Versicherungen oder die Pharmaindustrie für die Selbstvermessungsdaten zu interessieren beginnen.

Wer etwa wegen einer Behinderung nicht mehr eine bestimmte Anzahl Schritte gehen könne, laufe Gefahr, von vorteilhaften Versicherungskonditionen ausgeschlossen zu werden. Ausserdem seien viele dieser Tracker technisch noch mangelhaft und zu wenig präzise. Was den medizinischen Einsatz betreffe, sei man im Schweizer Gesundheitswesen zurückhaltend. Dies sei auch auf die fehlenden Qualitätsstandards zurückzuführen.

Schliesslich sei auch der Datenschutz unzureichend. Dadurch werde die Privatsphäre der Benutzerinnen gefährdet. Vor allem ausländische Anbieter hielten sich häufig nicht an die regulatorischen Anforderungen. Wenn ein Produkt aus Asien oder aus den USA stamme, sei es für die Anwender schwer, ihre Rechte durchzusetzen. Angesichts der zahlreichen offenen Fragen fordern die Forscher die Einführung von Qualitätslabels für Tracker. Diese müssten von Konsumentenschutz- und Patientenorganisationen hinsichtlich Datenqualität, Datenschutz, Vertragsbedingungen und Nutzerfreundlichkeit überprüft werden. (SDA/LHN)