Startseite
Schweiz
Die Wohngemeinde verliert für die Bevölkerung an Bedeutung: In Zeiten des rasanten Wandels und der Globalisierung identifiziert man sich in erster Linie mit der Schweiz, wie eine Studie zeigt. In ihr sieht man die Garantin für Stabilität.
Sie ist eine Vertreterin jener alten Schweiz, als das Dorf noch das Mass aller Dinge war. «Ich fühle mich von und zu Tenna», sagt Ursulina Joos (75) in der Ausstellung «Heimat» des Stapferhauses Lenzburg. Joos lebt im Bündner Bergdorf Tenna, das 2013 mit den Gemeinden Valendas, Versam und Safien zu Safiental fusioniert wurde. «Jetzt bin ich eigentlich Bürgerin von Safiental.» Das sei sie aber nicht so gerne: «Tenna gehört zu meiner Identität.»
Sarah Dastan (25) hingegen vertritt die neue Schweiz. Jene mit nationaler statt dörflich-lokaler Identität. Die Muslimin wuchs in Lausanne auf und studiert heute in Genf. Sie hängt nicht am Wohnort, sondern am Land. «Ich habe viel Liebe für die Schweiz», sagt sie an der Ausstellung. «Ich bin ein Schweizer Produkt.» Nicht nur, weil sie hier geboren wurde. Sondern vor allem, weil das Land ihre eigenen Kinder nie diskriminiert habe. «Ich konnte immer leben wie die anderen. Selbst wenn ich mein Kopftuch trug.»
Die Schweiz macht gerade eine starke Veränderung durch. Zentraler Identitätsanker der Bevölkerung ist nicht mehr die Wohngemeinde, sondern das Land selbst. Das zeigt der erste Europa-Barometer auf. Das Forschungsinstitut GfS Bern hat ihn mit dem Europa Forum Luzern eben veröffentlicht. Er beruht auf Daten des Credit-Suisse- Sorgenbarometers 2017, der nächste Woche vorgestellt wird.
Die zentrale Aussage des Europa-Barometers: 56 Pro- zent der Bevölkerung fühlen sich heute in erster Linie dem Land zugehörig, nicht mehr dem Wohnkanton oder der Wohngemeinde. 2004 war das gerade spiegelverkehrt. Die Schweiz lag mit 45 Prozent auf Rang drei, der Wohnkanton mit 47 Prozent an zweiter Stelle und die Wohngemeinde mit 53 Prozent auf Rang eins.
Die Wohngemeinde hat einen spektakulären Absturz als Identitätsanker hinter sich. Zwischen 2004 und 2011 lag sie mit bis zu 56 Prozent mehrfach an erster Stelle. Ab 2011 sackte sie aber ab, von 56 Prozent 2011 auf gerade noch 25 Prozent 2017. Ein historischer Tiefstwert. Damit liegt die Wohngemeinde nur noch an vierter Stelle – hinter dem Land, der Sprachregion und dem Kanton. Nur Europa (11 Prozent) und die Welt (8 Prozent) kommen auf noch tiefere Identitätswerte.
In einer Zeit der schnellen Veränderungen können die Gemeinden die Rolle des ruhenden Pols, die sie lange hatten, nicht mehr spielen. Die Wohngemeinden seien «weniger stark Dreh- und Angelpunkt des Lebens» als früher, sagt Politologin Cloé Jans, Autorin der GfS-Studie. «Die Bevölkerung ist in den letzten Jahren mobiler geworden, weil sie weniger verwurzelt ist.»
Ähnliche Feststellungen macht auch Sibylle Lichtensteiger, die Leiterin des Stapferhauses Lenzburg. Sie traf mit der Ausstellung «Heimat, eine Grenzerfahrung» den Nerv der Zeit. Die Ausstellung, die noch bis März 2018 läuft, zog bisher über 50 000 Menschen an. Lichtensteiger sagt, die Geburts- oder Wohngemeinde verliere an Bedeutung, «weil man den Ort oft wechselt, in dem man lebt und arbeitet».
Sie spricht davon, dass es ein Bedürfnis gebe, über das Thema Heimat nachzudenken. Das Stapferhaus befragte im Vorfeld der Ausstellung 1000 Menschen dazu. 95 Prozent bezeichneten Menschen – vor allem die Familie – als Heimat. Bei 94 Prozent waren es Landschaften, die Heimatgefühle auslösten: Berge, Seen und Wälder. «Wer Schweiz sagt, denkt vor allem an die Landschaft, in die er hineingeboren wurde», sagt Lichtensteiger.
Das Revival der Schweiz hat stark damit zu tun, dass das Land mit seinen gut funktionierenden Institutionen Garantin von Beständigkeit ist. In einer Zeit schneller globaler Veränderungen hat das die Langweiligkeit verloren. Beständigkeit gilt wieder etwas. «Die Bevölkerung hat realisiert, dass die Schweiz alle Krisen einigermassen glimpflich überstand», sagt StudienAutorin Jans.
«Das trägt dazu bei, dass sie das Land als Erfolgsmodell sieht. Das schafft Identität.» Unter dem nationalen Dach fänden unterschiedlichste Identitäten zusammen. «Die Schweiz stiftet als Land sehr starke Identität», sagt Jans. «Das liegt auch daran, dass sie eine Willensnation ist.»
Das Europa-Barometer zeigt, dass die Eidgenossenschaft für ein gutes Schulsystem steht, für Sicherheit, Friede und Neutralität. Besonders stolz sind die Befragten auf die politischen Institutionen des Landes. Über allem thront die Bundesverfassung. 95 Prozent der Befragten geben an, stolz auf sie zu sein. Unabhängig- keit, Zusammenleben, Neutralität und Föderalismus schaffen es ebenfalls auf über 80 Prozent .
Die Bundesverfassung sei «ein Leuchtturm der Helvetizität», sagt Studien-Autorin Jans. «Sie steht über dem manchmal schmutzigen Tagesgeschäft der Politik, ist ein sehr starkes Sinnbild für die Institutionen.» Die Bundesverfassung wird auch an der Ausstellung «Heimat» thematisiert. Sie werde immer wieder genannt, obwohl niemand sie wirklich kenne, sagt Lichtensteiger. Sie glaubt, dass man sie mit dem Rechtssystem gleichsetze, auf das man stolz sei. «Wer die Präambel der Bundesverfassung liest, muss sagen: Das ist eine wahnsinnig schöne Präambel.»
Dass die direkte Demokratie die Schweiz zu einem Pol der Stabilität macht, hält indirekt auch der Bericht «Der globale Zustand der Demokratie« fest. Darin hat das Internationale Institut zur Förderung von Demokratie (IDEA) in Stockholm die Entwicklung der Demokratie zwischen 1975 und 2015 untersucht. Die Schweiz zeige, dass repräsentative und direkte Demokratie sich gut unterstützten. Damit versuchten nun auch Parteien in anderen Staaten, das Vertrauen der Bürger zu gewinnen, heisst es im Bericht.
Für Lichtensteiger erinnert die Situation von heute an die Industrialisierung. «Die tiefgreifende Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse führten damals zu einem Gefühl der Entfremdung», sagt sie. «Es kam zu einer Verklärung der Heimat. Sie wurde emotionalisiert und idealisiert.» Heute geschehe etwas Ähnliches. «Die Schweiz steht mit ihrer Natur und den Bergen als Symbol für Stabilität und Geborgenheit.»
Das Land und seine Berge sind aber längst nicht mehr ein rein bürgerliches Identitätskonzept. «Swissness war früher ein klassischer rechtsbürgerlicher Trend», sagt Jans. Inzwischen sei der Stolz über die Schweiz «auch in linken Kreisen spürbar». Was die Berge als Symbol von Heimat und Identität betrifft, herrscht einhelliger Konsens. Links wie rechts, jung wie alt, Stadt wie Land dächten so, sagt Lichtensteiger. «Das hat mit einer kollektiven Identität zu tun.»
Dieses Erfolgsmodell ist kein Selbstläufer. Bedroht wird es nicht nur von aussen, etwa durch die Probleme mit der EU. Bedroht wird es auch von innen. Zumindest sehen das die Schweizer immer deutlicher so. In ihren Augen ist es die Polarisierung, welche die Identität des Landes am ernsthaftesten in Gefahr bringen könnte. Noch 2010 sahen nur 45 Prozent die Polarisierung als Gefahr an. Inzwischen ist dieser Wert auf 79 Prozent hochgeschnellt.
«Das ist erstaunlich», sagt Cloé Jans. «Polarisierung galt bisher eher als theoretisch-politisches Konzept.» Jetzt aber realisiere man, dass sich die Parteien nicht mehr einigen könnten. Das habe Konsequenzen. Das Politjahr 2017 mit zwei wichtigen abgelehnten Vorlagen – Unternehmenssteuer-Reform III und AHV-Reform – lässt als Vorbote grüssen.