Die Berner Reitschule ist ein Hort des Terrors, Freiraum für die anderen. Eine Spurensuche.
Manuel C. Widmer stellt sein E-Bike an einen der Brückenpfeiler. Er ist Ex-Reitschüler, doch das C. passt so gar nicht zu einem Linksautonomen. Widmer ist längst arriviert, sitzt für die Grüne Freie Liste im Stadtparlament. «Bald ist es dreissig Jahre her, seit ich hier mit der Gassenküche Drogenkonsumenten und Obdachlose verköstigte», sagt er.
Wie immer riecht es nach Pisse. Vor uns liegt der Vorplatz, über uns der Eisenbahnviadukt. Dahinter die Reitschule. Für die einen Hort des Freiraums und der kulturellen Vielfalt, für die anderen ist das Treiben hier zu bunt, ein Schandfleck. Mit ihren Türmchen und Graffiti hat die Reitschule etwas von einem abgehalfterten Schloss. Nun liegt es im Dornröschenschlaf. Die Reitschüler haben vor einer Woche entschieden, das Tor bis auf weiteres zu schliessen.
«Freiraum bedeutet Verantwortung übernehmen», steht auf einem gespannten Leintuch. Mit der Schliessung haben die Reitschüler auf einen sexuellen Übergriff vor ihren Toren auf der Schützenmatte reagiert. Die Verantwortung dafür wollten und könnten sie nicht übernehmen, schrieben sie.
Wir stehen auf dem breiten Trottoir an der Neubrückstrasse, der Vorplatz liegt rechts unten. Abends begrüssen hier afrikanische Dealer die Reitschulbesucher mit einem diskreten Wink.
Man wisse genau, wie der Drogenhandel bei der Reitschule funktioniere, sagt ein einflussreicher Berner Sicherheitsmann. Die erste Reihe posiere unten an der Kreuzung. Das seien die Warner. Die zweite Reihe Dealer stehe auf dem Trottoir, über das die meisten Reitschul-Besucher auf das Areal gelangen. Sie fädelten die Deals ein. Zur Übergabe des Stoffs komme es am innersten Ring, gleich vor dem grossen Haupttor. «Die Dealer dort tragen die Drogen auf sich. Ist Polizei in Anmarsch, so können sie schnell im Inneren der Reitschule verschwinden, den Stoff in eine Ecke schmeissen und sich unter die Besucher mischen», sagt der Mann, der aus Angst, sich zu stark zu exponieren, anonym bleiben will.
Es sind zwei Welten, die nicht zueinander passen. Verfolgten Polizisten die Dealer ins Innere, gleiche das einem Spiessrutenlauf. Bullen innerhalb der Reitschule – das geht für viele Reitschüler gar nicht. «Sie werten das als Überfall», so Widmer. «Kommt es zu Razzien unter den meist schwarzafrikanischen Dealern, so kreiden das die Reitschüler reflexartig als rassistisch motivierte Auslese an.»
Die Reitschule ist auch ein Kulturlokal. An der Ecke führt eine Metalltreppe zum Notausgang des Dachstocks. Er ist eines der angesagtesten Konzert-Lokale Berns. Akustik und Programmierung sind gut, der Dachstock zieht ein breites Publikum an. Durch die Fensterschächte im Untergrund ist das Innere des Restaurants Sous le Pont zu erkennen. Zwei Reitschüler diskutieren bei Frühstücksbrötchen und Apfelschorle. Sous le Pont und Dachstock funktionieren fast wie normale Betriebe. Fehlt es ihnen nun nicht an Einnahmen? Der Schaden dürfte sich in engen Grenzen halten, sagt Widmer. Es herrscht Sommerloch, was auch die Reitschule zu spüren bekommt.
Experimenteller geht es in der «Cafete» zu. Die Cafeteria ist eine von insgesamt 13 Reitschulgruppen, darunter ein Kino, ein Wohnhaus, das Tojo-Theater oder eine Druckerei. Sie sind basisdemokratisch organisiert. Oben am Hügel sind Wohnblocks zu sehen. Von dort kommen die Klagen der einen lärmgebeutelten Anwohner, vom gegenüberliegenden Aarehang diejenigen der anderen. In Sichtweite der Reitschule liegt die Notschlafstelle Sleeper. Und das «Dead End», der Club, in dem Bernerinnen und Berner gerne die Nacht ausklingen lassen. Sofern sie überhaupt an den wählerischen Türstehern vorbeikommen.
Auf der andern Strassenseite liegt die Kaderschmiede. Hier wird die Poloshirt und Hemden tragende BWL-Fraktion der Uni Bern ausgebildet. Von ihnen sieht man nur wenige in der Reitschule. Mit der Toleranz gegenüber Andersgesinnten sei es nicht weit her, heisst es über die Toleranz predigende Reitschule. Was dazu gar nicht passt: Ihr Bierlieferant ist der Innerschweizer Biermeister Alois Gmür. Der Schwyzer sitzt für die CVP im Nationalrat und kehrt mit Fraktionskollegen für das «beste Schnipo Berns» hin und wieder im Sous le Pont ein.
Am untersten, aareseitigen Ende des Areals steht auf der gegenüberliegenden Strassenseite die einzige Drogenanlaufstelle Berns. Das Gebäude gehört der Stadt, der Betrieb wird von der Stiftung Contact Netz geführt. Ab 14.30 Uhr können registrierte Drogenkonsumenten aus dem Kanton Bern hier in geschütztem Rahmen ihre mitgebrachten Drogen konsumieren. Das Konzept ist Teil der pragmatischen Schweizer Drogenpolitik, deren Ziel unter anderem die Verhinderung einer offenen Drogenszene ist. Im «Bund» hat der Basler Soziologe Ueli Mäder die geografische Nähe zwischen Drogenanlaufstelle und Drogenhandelsplatz vor der Reitschule kritisiert.
Ines Bürge führt die Drogenanlaufstelle seit 14 Jahren. Sie sagt: «Unsere Konsumenten haben ihre Drogen nur sehr selten von Dealern, die vor der Reitschule handeln.» Das sei eine andere Szene, und man weise die Drogensüchtigen darauf hin, dass sie nicht vor der Reitschule konsumieren dürfen.
Anders sieht es Widmer: «Mit der Drogenanlaufstelle nebenan haben die Dealer die Kunden für den harten Stoff, mit den Kids an den Wochenenden können sie neue Kundengruppen erschliessen. Zuerst mit Cannabis, dann auch mit hartem Stoff.» Wochenende für Wochenende fahren Hunderte partywütiger Jugendlicher mit billigem Bier und Fusel nach Bern. In den Vororten werden sie nicht geduldet, also gehen sie in die Stadt. Das Bier ist in der Reitschule zwar nicht etwa billiger als in anderen Berner Clubs. Die Reitschule gilt vielen als einziger Ort ohne Konsumzwang. Der Vorplatz wird zur Festhütte Berns.
Wir schlendern zwischen den Autos auf der Schützenmatte zurück zum Vorplatz. Unter der Eisenbahnbrücke schaufeln Bauarbeiter am Skatepark, der nach zehn Jahren Planung im August eröffnet werden soll. Er ist Teil des politischen Konzepts der Stadt, das Schützenmatte, Vorplatz und das Niemandsland dazwischen aufwerten will.
Hier ist es in der Nacht vom letzten Freitag auf den Samstag zum sexuellen Übergriff gekommen. Er veranlasste die Reitschule, das Tor zu schliessen. Gestern bestätigte die für die Stadt zuständige Kantonspolizei, Kenntnis vom Übergriff am Samstagmorgen zwischen 3 und 4 Uhr zu haben. Weitere Informationen gab sie dazu nicht. Die Reitschüler selbst warnten im Frühling, man habe das Gefühl, es vergrössere sich die Zahl der sexuellen Übergriffe auf der Schützenmatte. Bei der Polizei kann man diese Beobachtung nicht bestätigen. Es sei aber vermehrt zu Gewaltdelikten gekommen, so Kapo-Sprecherin Ramona Mock.
Von gewalttätigen Auseinandersetzungen hat sich die Reitschule nie klar abgegrenzt. Randalierer und der schwarze Block fänden wie die Drogendealer immer wieder Unterschlupf in der Reitschule. Gewalt ist okay, sexuelle Übergriffe sind es gar nicht, so die Losung. Vielleicht ist die Ablehnung sexueller Übergriffe der kleinste gemeinsame Nenner der basisdemokratischen Reitschüler. Sexuelle Gewalt können sie nicht tolerieren, im Gegensatz zum gewalttätigen Strassenkampf, den manche Reitschul-Gruppierungen als probates Mittel im Kampf gegen das System anerkennen.