Zahlreiche Chefs von Schweizer Grosskonzernen haben ihre Karriere nicht mit der Matura, sondern mit einer Lehre lanciert – ist das auch heute noch möglich?
In wenigen Tagen beginnt für Tausende Jugendliche in der Schweiz ein neuer Lebensabschnitt: Einige treten als Lehrling in ein Unternehmen ein, andere nehmen die Matura in Angriff. Der Konkurrenzkampf zwischen den beiden Bildungswegen hat sich in den letzten Jahren verschärft, weil die Anzahl Schulabgänger rückläufig ist. Zuletzt hatten im Wettbewerb um die besten Köpfe die Gymnasien die Nase vorn. Die Maturitätsquote hat sich seit 1980 von 10 auf 20 Prozent verdoppelt.
Vertreter der Wirtschaft beklagen sich deshalb regelmässig darüber, dass viele Unternehmen keine Lehrlinge finden. Sie fordern, dass die Anforderungen für die Aufnahme ans Gymnasium erhöht werden. Mitverantwortlich für die steigende Maturaquote sind auch die Eltern. Vor allem in städtischen Gebieten wollen viele, dass ihre Kinder um jeden Preis ans Gymnasium gehen. Der Grund: Sie sind überzeugt, dass ihr Nachwuchs so die besten Karrierechancen hat.
200 Lehrlinge in Geschäftsleitung
Die Lehre als Karrierekiller? Eine Analyse der «Nordwestschweiz» bestätigt dieses Vorurteil nicht. In der Geschäftsleitung der 100 grössten Schweizer Arbeitgeber sassen in den letzten neun Jahren mehr als 200 Personen, die ihre berufliche Karriere mit einer Lehre lanciert haben. Zahlreiche Grosskonzerne haben im Moment einen CEO, der mit einer Lehre ins Berufsleben gestartet ist. Die bekanntesten sind Sergio Ermotti (UBS), Martin Senn (Zurich), Peter Meier (Kuoni), Harry Hohmeister (Swiss) und Ernst Tanner (Lindt & Sprüngli).
Headhunter Guido Schilling ist überzeugt, dass das duale Bildungssystem einer der Erfolgsfaktoren der Schweizer Wirtschaft ist: «In den letzten 20 Jahren wurde dieses System mit einer maximalen Durchlässigkeit weiter perfektioniert. Somit stehen viele Türen offen, um sich nach einem erfolgreichen Lehrabschluss weiterzubilden.» Das sollte allen Eltern Mut machen, ihren Kindern, die mit einer Lehre starten wollen, die volle Unterstützung zu bieten, so Schilling.
Der Schweiz gehen die Fachkräfte aus. Das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative hat das Problem verschärft. Wenn die Schweiz die Zuwanderung ernsthaft drosseln will, hat sie keine andere Möglichkeit, als das inländische Potenzial an Arbeitskräften besser auszuschöpfen. Die «Nordwestschweiz» beleuchtet in einer fünfteiligen Serie die Herausforderungen, welche es im Kampf gegen den Fachkräftemangel zu überwinden gilt.
Morgen erscheint: Wenn Mütter wieder arbeiten wollen – aber nicht können.
Der Jüngste der genannten Lehrlinge, die es bis ganz nach oben geschafft haben, ist Kuoni-Chef Peter Meier. Er hat Jahrgang 1965 und wird nächstes Jahr 50. Es stellt sich deshalb die Frage, ob der Weg vom Lehrling zum CEO auch einer jüngeren Generation noch offen steht.
Zurich-Chef Martin Senn ist überzeugt davon: «Für mich persönlich war die kaufmännische Lehre der richtige Weg. Ich würde mich wieder dafür entscheiden.» Ebenso UBS-CEO Sergio Ermotti: «Ich bin eher der Praktiker, der Sachen umsetzt. Die Basis, die mir die Lehre gab, war wichtig für meine Karriere.» Hansueli Loosli, Verwaltungsratspräsident von Coop und Swisscom, ist ebenfalls ein ehemaliger Lehrling. Auch er würde sich wieder gleich entscheiden.
Grübel würde heute studieren
Anders sieht es Oswald Grübel, der ehemalige Chef von Credit Suisse und UBS. Er sagt klipp und klar: «Nein, ich würde mich nicht mehr für eine Lehre entscheiden. Wir haben heute eine andere Umgebung, in der man nur mit den höchsten Uniabschlüssen ernst genommen wird.»
Unterstützung erhält Grübel von Walter Zimmerli. Der Zürcher ist Stiftungsprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin und tritt für eine höhere Akademikerquote in der Schweiz ein: «Angesichts des vollzogenen Übergangs in die Wissensgesellschaft bietet heute der Weg über ein Hochschulstudium fraglos bessere Karrierechancen.» Die zahlreichen Lehrlinge, die es zum CEO geschafft haben, sind für ihn kein Beweis für das Gegenteil: «Bei der im internationalen Vergleich niedrigeren Maturaquote in der Schweiz wäre es sehr verwunderlich, wenn sich ausschliesslich Maturanden in Führungspositionen fänden.»
Eine Lehre allein reicht nicht
Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) gibt Grübel insofern recht, als dass man mit nicht viel mehr als einer Berufslehre heute nicht mehr an die Unternehmensspitze gelange. «Er liegt aber falsch, wenn er die Berufslehre generell infrage stellt», sagt der stellvertretende SBFI-Direktor Josef Widmer. Eine Berufslehre mit anschliessendem höherem Berufsbildungsabschluss oder mit Berufsmatura und Fachhochschulabschluss sei auch heute noch eine gute Vorbereitung auf Spitzenpositionen in der Wirtschaft.
Die meisten Geschäftsleitungsmitglieder, die ihre berufliche Karriere mit einer Lehre lanciert haben, absolvierten nach dem Lehrabschluss mehrere weiterführende Ausbildungen. «Objektiv gesehen sind die Karriereperspektiven im Anschluss an eine berufliche Grundbildung heute genauso gut wie mit einer gymnasialen Matur», so Widmer. Das Bildungssystem sei in den letzten Jahren unter dem Motto «kein Abschluss ohne Anschluss» reformiert und durchlässig gestaltet worden.
Gefahr der Verwässerung
Die hohe Durchlässigkeit des Bildungssystems wird von den meisten Experten durchwegs positiv bewertet. Auch der Zürcher Headhunter Schilling ist grundsätzlich ein Fan der Durchlässigkeit. Gleichzeitig warnt er aber vor einer Verwässerung: «Wir sollten unsere Fachhochschulen noch optimaler auf Lehrabsolventen mit einer Berufsmatura ausrichten und die Gymnasiasten vorbereiten, dass ihr Weg an eine Universität führen soll. Hier haben wir an Trennschärfe verloren.»
Schilling hält nichts von den Bestrebungen der Fachhochschulen und pädagogischen Hochschulen, ebenfalls akademische Titel verleihen zu wollen: «Wenn jemand nach dem Bachelorstudium an der Fachhochschule einen Doktortitel anstrebt, soll er das machen können – aber an einer Universität.»