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Schweiz
Die Kirchen engagieren sich dafür, dass Aufbahrungen auch im Ausnahmezustand möglich sind. In vielen Spitälern haben sie Erfolg, aber nicht auf allen Friedhöfen. Eine Spitalseelsorgerin erzählt, was im Verarbeitungsprozess wichtig ist.
Vor dem Spital Bülach steht ein Sicherheitsmann in Stiefeln und Leuchtweste. Er kontrolliert, dass das Besuchsverbot eingehalten wird. Es gilt in allen Spitälern, aber hier sind die Sicherheitsvorkehrungen besonders streng. Bülach führt eine Covid-19-Station. Die Patienten sind weitgehend von der Aussenwelt abgeschnitten. Angehörige erhalten nur in besonderen Fällen eine Besuchsbewilligung, zum Beispiel wenn jemand im Sterben liegt.
Eine Frau, die nicht vom Spital angestellt ist, hat allerdings immer Zutritt: Claudia Graf. Sie ist reformierte Pfarrerin, ihren Lohn erhält sie von der Landeskirche, aber ihr Arbeitsort ist nicht eine Kirche, sondern das Spital Bülach. Die 48-Jährige arbeitet seit sechs Jahren als Spitalseelsorgerin. In der Coronakrise ist ihre Arbeit besonders gefragt. Für viele Patienten ist sie die einzige Besucherin. Ihre Aufgabe besteht derzeit aus einem Widerspruch: Nähe schaffen und Distanz wahren.
Graf sitzt in einem leeren Patientenzimmer und erzählt, wie sie an Ostern die Abstandsregeln verletzt hat. Am Bett eines Patienten, der am Sterben war, habe sie ein berührendes Gespräch geführt, da sei es passiert: Sie habe ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Das sei einfach wichtig gewesen.
Spitalseelsorgerinnen wie Graf haben sich in vielen Kantonen dafür eingesetzt, dass sich Angehörige auch im Notstand noch von Verstorbenen verabschieden können. Dazu gehört, dass sie den Leichnam sehen können, wenn sie dies wünschen. «Für viele Menschen ist das ein bedeutender Moment, um den Tod zu realisieren und zu verarbeiten», sagt Graf.
Anfangs waren Spitaldirektoren skeptisch, ob sie diese Art des Abschieds noch anbieten können. Besteht ein Gesundheitsrisiko? Ist der Personalaufwand zu gross?
Spitalseelsorgerin Graf hat dazu beigetragen, dass sich zumindest die zweite Frage erübrigt. Sie hat ein Team mit freiwilligen Helfern zusammengestellt, die sich um die Toten und ihre Angehörigen kümmern, falls alle Kräfte des Pflegepersonals für die Lebenden benötigt würden. Bis jetzt war der Einsatz nicht nötig. Bülach hat erst einen Covid-19-Todesfall. Derzeit ist das Spital halb leer.
Doch auch in vielen Spitälern mit mehr Covid-19-Todesfällen besteht das Angebot. Oft hat Überzeugungsarbeit von Kirchenvertretern den Ausschlag dafür gegeben.
Auf vielen Friedhöfen wurde das Anliegen der Kirchgemeinden hingegen nicht erhört. Aufbahrungen werden von den Bestattungsämtern nicht mehr überall angeboten. Das bedeutet, dass Angehörige den Leichnam nicht mehr im offenen Sarg besuchen können. Einige Kantone und Gemeinden gehen dabei weiter, als der Bundesrat vorschreibt.
Auf dem grössten Friedhof der Schweiz zum Beispiel, dem Hörnli von Basel-Stadt, wurden seit Beginn des Notstands keine Aufbahrungen mehr durchgeführt. Ab nächster Woche ist eine Lockerung geplant. Dann soll bei gewöhnlichen Todesfällen eine Aufbahrung hinter einer Glasscheibe wieder möglich sein. Die Särge von Verstorbenen mit Coronavirus hingegen bleiben weiterhin geschlossen.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt jedoch, auch Angehörigen von Covid-19-Verstobenen die Möglichkeit zu bieten, den Leichnam zu sehen. Man solle diesen einfach nicht berühren. Die WHO hält fest, dass Covid-19-Leichen nicht infektiös seien. Vorsicht sei nur geboten, wenn sie bewegt würden, weil dann virenhaltige Luft entweichen könnte. Deshalb solle diese Arbeit nicht von Risikopersonen durchgeführt werden.
Dominik Heiber leitet die Basler Friedhöfe und erklärt, weshalb er entgegen den WHO-Empfehlung keine Aufbahrungen bei Covid-19-Todesfällen anbietet: «Die Särge mit den Verstorbenen werden auf Rollwagen von den Kühlräumen in die Aufbahrungsräume gefahren. Dabei bewegen sie sich. Es ist deshalb nicht auszuschliessen, dass virenhaltige Luft entweicht, wenn man den Sargdeckel öffnet. Zum Schutz unserer Leute wollen wir nichts riskieren.»
Simon Peng-Keller ist Professor für Spiritual Care der Universität Zürich und findet, es gäbe keinen Grund, die üblichen Formen eines würdigen Abschieds ausser Kraft zu setzen. Er sagt: «Ich halte das für eine problematische Überreaktion, die Trauernden den Abschied von ihren Angehörigen unnötig erschwert.» Er fordert Bestattungsämter dazu auf, die Regeln zu lockern.
Schweizweite Lockerungen gibt es vorerst aber nur beim Teilnehmerkreis, der zu Bestattungen zugelassen ist. Bisher war es der «engste Familienkreis», nun wird die ganze Familie zugelassen.
Viele Trauernde gehen mit den Restriktionen gelassen um. Thommy Streller aus Aesch BL (der Vater des Fussballers) hat seinen 73-jährigen Schwager verloren. Dieser kämpfte fünfzehn Tage auf der Covid-19-Station des Baselbieter Bruderholzspitals gegen das Virus.
Streller und seine Frau verzichteten schweren Herzens auf einen Besuch, weil sie selber zur Risikogruppe gehören. Auch eine Aufbahrung wünschten sie nicht. «Wir verabschieden uns jetzt auf anderem Weg», sagt Streller. Er lobt die Behörden und die Covid-19-Station des Spitals: «Das Personal des zwölften Stocks leistet hervorragende Arbeit.»
Die Arbeit der Spitalangestellten ist hart. Auch für sie ist die Spitalseelsorgerin da. Claudia Graf spürt in den Gesprächen eine grosse Unsicherheit. Sie sagt: «Spitalmitarbeitende gelten in gewissen Kreisen als die neuen Aussätzigen, weil die Angst vor einer Ansteckung so gross ist.»
Im Spital Bülach sind bisher 15 Angestellte am Coronavirus erkrankt. 12 sind wieder gesund. Wenn sie zurück zur Arbeit erscheinen, feiert die Spitalseelsorgerin mit ihnen die Heilung.