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Schweiz
Flavio Cotti ist tot. Laut verschiedener Tessiner Medienberichten starb der CVP-Politiker an Komplikationen in Zusammenhang mit einer Coronavirus-Erkrankung. Er war ein Wegbereiter des Bilateralismus. Nach dem Rücktritt tat er nur noch eines: Schweigen.
Interviews mit Alt-Bundesräten sind zu einer eigenen Textgattung im Journalismus geworden. Wenn ein verdienter Alt-Magistrat aus der Deckung tritt, werden seine Worte oft mehr beachtet als die eines amtierenden Bundesrats. Dabei gilt die Regel: Je rarer sich ein Alt-Bundesrat macht, umso gewichtiger sind seine Aussagen. Nach dieser Regel wiegen die Aussagen von Christoph Blocher (SVP), Pascal Couchepin (FDP) oder Moritz Leuenberger (SP) nicht viel; zu inflationär sind ihre Auftritte.
Maximal rar gemacht hat sich Flavio Cotti, CVP-Bundesrat von 1987 bis 1999, der am Mittwoch in Locarno im Alter von 81 Jahren an Corona gestorben ist. Cotti war der letzte Tessiner Bundesrat, bis 2017 Ignazio Cassis (FDP) gewählt wurde.
Mit grosser Trauer nehme ich Kenntnis vom Tod von Flavio Cotti. Unsere Begegnung an der Bundesratsfeier in Bellinzona bleibt mir in bester Errinnerung. Sein politischer Geist wird immer im Aussendepartement wehen. Le mie sincere condoglianze alla famiglia del caro amico Flavio. pic.twitter.com/BasFoyFTs2
— Ignazio Cassis (@ignaziocassis) December 16, 2020
Cotti gab nach seinem Rücktritt nämlich gar keine Interviews. Zwar traf man ihn da und dort an, so tauchte er an der Wahlfeier für Cassis auf. Aber politische Interventionen sind keine dokumentiert. Eine Generation von Journalisten versuchte seit 1999 vergeblich, ihn aus der Reserve zu locken.
So auch der Schreibende. Die Gelegenheit schien günstig auf einer Reise mit amtierenden und ehemaligen Aussenpolitikern in Moskau im Jahr 2010. Während einer langen Autofahrt zur Schweizer Botschaft analysierte Cotti mit einer Mischung aus Aggression und Witz die Schweizer Aussenpolitik, vor allem das Verhältnis zur EU. Das hätte gereicht für drei, vier knallige Schlagzeilen. Aber Cotti sagte nach jedem süffisanten Satz mit schalkhaftem Blick: «Alles off the record!», also nicht zitierbar. Nach dem Essen auf der Botschaft flüsterte er dann: «Also wenn ich dann doch einmal noch ein Interview geben sollte, dann nur Ihnen!» Ein Satz, den allerdings auch viele andere Journalisten zu hören bekamen. Cotti war als Mitglied des Beirats der Credit Suisse nach Moskau eingeladen. Er hatte weitere Mandate in der Privatwirtschaft, die er mit höchster Diskretion ausübte, etwa bei Georg Fischer.
Es mag klischiert klingen bei einem Tessiner, aber Cotti war ein Charmeur. Er gehörte zu den beliebtesten Bundesräten. Dass Adolf Ogi (SVP), dessen Amtszeit sich mit seiner überschnitt, noch ein Stück weit beliebter war, soll ihn gewurmt haben. Wie viele Charmeure war Cotti auch empfindlich und schnell gekränkt. Sein Bild in der Öffentlichkeit war ihm wichtig, er war ein Liebling der «Schweizer Illustrierten», die ihn auch auf Wanderungen begleiten durfte.
Seine Offenheit und sein Witz erleichterten ihm den Zugang zu Menschen, was ihm als Bundesrat half, Deals zu machen.
Flavio Cotti ist verstorben. Er war von 1984 bis 1986 Parteipräsident der CVP Schweiz und von 1986 bis 1999 Bundesrat. Er war eine grosse Persönlichkeit und ein Staatsmann, dem die Schweiz viel verdankt. RIP.
— Gerhard Pfister (@gerhardpfister) December 16, 2020
In Erinnerung bleibt weniger seine Zeit als Innenminister (1987 bis 1993) als sein Wirken im Aussendepartement (EDA) von 1993 bis 1999. Da hatte er grossen Einfluss. Die «NZZ am Sonntag» kürte erst vor einem Monat den «perfekten Bundesrat» und besetzte ihn unter anderem mit Cotti. Er sei ein «Regent» gewesen.
Cotti trat den Aussenminister-Posten ein halbes Jahr nach dem Nein zum EWR-Beitritt an. Dieses Volksverdikt hatte Cotti, noch Innenminister, selbst mitverschuldet, indem er im Bundesrat zur 4:3-Mehrheit gehörte, die vor der EWR-Abstimmung für die Einreichung eines EU-Beitrittgesuches stimmte und so den Europagegnern um Christoph Blocher einen Steilpass gab: Der EWR als Vorstufe zum EU-Beitritt.
Doch während Wirtschaftsminister Jean-Pascal Delamuraz (FDP) schmollte und das Volk beschimpfte («ein schwarzer Sonntag»), packte Frohnatur Cotti die Chance und begann, den bilateralen Weg zu bereiten. Im Jahr seines Rücktritts, 1999, war das bilaterale Vertragspaket I unter Dach und Fach.
Der Meister des Deals zelebrierte seine Kunst ein letztes Mal bei seinem Rücktritt, den er mit CVP-Kollege Arnold Koller abstimmte. So sicherte er seiner Partei die beiden Bundesratssitze – und brachte sie für die Parlamentswahlen einige Monate später ins Gespräch. Dann trat Cotti ab. Und schwieg.