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Das Baselbieter Kantonsgericht verhandelt als zweite Instanz eine schwierige Frage. Welche Bedingungen gelten bei Suizidhilfe für psychisch Kranke? Die Rechtsprechung wird für die Schweiz wegweisend sein.
Inhaltsverzeichnis
Vor fünf Jahren begleitete die Baselbieter Suizidhelferin Erika Preisig eine 66-jährige Frau in den Tod. Diese hatte eine komplizierte Krankengeschichte. Sie litt an Schmerzen im Hals und im Magen, welche die Ärzte nicht erklären konnten. Sie vermuteten deshalb eine psychische Ursache und verschrieben Psychopharmaka. Diese vertrug die Patientin aber schlecht. Heute gibt es Anzeichen, dass sie an einer seltenen allergischen Reaktion der Speiseröhre gelitten haben könnte.
Wegen der psychiatrischen Diagnosen in der Krankengeschichte stellt sich die Frage, ob die Patientin urteilsfähig war. Konnte sie also die Folgen ihres Sterbewunsches abschätzen? Die Staatsanwaltschaft verneint dies mit Verweis auf ein psychiatrisches Gutachten, das nach dem Tod erstellt wurde.
Preisig hatte damals kein psychiatrisches Gutachten eingeholt, weil sie keinen Psychiater fand. Die Klinik, mit der sie bisher zusammengearbeitet hatte, kündigte die Kooperation aus ethischen Gründen.
Vor zwei Jahren sprach das Baselbieter Strafgericht Preisig vom Hauptanklagepunkt der vorsätzlichen Tötung frei. Es wich vom Gutachten ab und ging davon aus, dass die Seniorin urteilsfähig war. Das Gericht verurteilte Preisig aber wegen Verletzung des Heilmittelgesetzes, weil sie der Patientin das Sterbemittel verschrieben habe, ohne deren Gesundheitszustand genau zu kennen.
Preisig und die Staatsanwaltschaft haben Beschwerde erhoben. Deshalb kommt es nun zur zweitinstanzlichen Verhandlung vor dem Kantonsgericht. Das letzte Wort wird wohl das Bundesgericht haben.
Die Suizidhilfe ist in der Schweiz nur in den Grundzügen geregelt. Wichtige Details wie die Voraussetzungen für psychiatrische Gutachten sind nicht definiert. Massgebend ist dafür derzeit ein fünfzehn Jahre altes Bundesgerichtsurteil. Dieses macht jedoch nur vage Angaben. Es geht dabei um «eine unheilbare, dauerhafte, schwere psychische Beeinträchtigung», die das Leben auf Dauer hin nicht mehr als lebenswert erscheinen lasse. In diesem Fall sei Suizidhilfe zulässig, aber ein psychiatrisches Fachgutachten Pflicht.
Die Gerichte müssen nun klären, welche psychiatrischen Diagnosen damit gemeint sind. Es geht auch um eine gesellschaftliche Frage: Wie viel Schutz oder wie viel Bevormundung sollen Menschen mit einer psychischen Krankheit haben?
Die Verhandlung ist auf einen halben Tag angesetzt. Das Urteil folgt in einer Woche. Das Kantonsgericht ist durch ein Polizeiaufgebot gesichert. Bei der erstinstanzlichen Verhandlung hat die Polizei eine Drohung durch einen Zuschauer wahrgenommen und danach besondere Massnahmen ergriffen. Jetzt findet die Verhandlung verteilt über mehrere Gerichtssäle statt. Die Journalisten verfolgen sie in einem separaten Saal per Videoübertragung. Gerichtspräsident Enrico Rosa betont bei der Prozesseröffnung, dass Film- und Tonaufnahmen innerhalb des Gerichtsgebäudes verboten sind.
Neben Gerichtspräsident Rosa setzt sich die Fünferkammer des Kantonsgerichts aus Vizepräsident Markus Mattle, Beat Hersberger, Susanne Affeldt und Dominique Steiner zusammen. Die Staatsanwaltschaft wird, wie schon in der ersten Instanz am Strafgericht, von Evelyn Kern vertreten.
Gerichtspräsident Enrico Rosa fragt Preisig, was sie zum Vorwurf der vorsätzlichen Tötung sage. Sie antwortet:
«Die Anklage schockiert mich. Ich fühle mich absolut missverstanden. Für mich ist es schwierig damit umzugehen, weil ich eigentlich eine Person bin, die immer versucht, alles so korrekt wie möglich zu machen.»
In der Folge dreht sich die Befragung durch den Gerichtspräsidenten um die medizinischen Abklärungen und Medikationen, die Preisig an ihrer sterbewilligen Patientin vorgenommen und ihr verschrieben hat. Preisig betont, dass sie ein hauptsächlich somatisches Leiden bei Frau M. diagnostiziert hätte, aber nicht ausschliessen wolle, dass sie auch psychische Probleme gehabt haben könnte. Die somatischen Befunde mit ihren Magenbeschwerden und Entzündungen der Speiseröhre seien aber klar im Vordergrund gestanden. Sie sagt: «Ich habe die Patientin nicht als depressiv empfunden.»
Nach den schlechten Erfahrungen mit der Einnahme von Neuroleptika während ihrer psychiatrischen Behandlung habe sich die Patientin in der Folge strikt geweigert, weitere Medikamente einzunehmen. Preisig vermutet, dass ihre Leidensempfindsamkeit während der psychiatrischen Behandlung noch verstärkt wurde, da ihr ständig eingeredet worden sei, sie bilde sich die Schmerzen nur ein. Dabei wollte sie keine «eingebildete Kranke» sein. «Ich lasse mich nicht psychiatrisieren», soll die Patientin zu Preisig gesagt haben.
Nach einer zehnminütigen Verhandlungspause konfrontiert Gerichtspräsident Enrico Rosa die Beschuldigte mit den Feststellungen aus dem erstinstanzlichen Verfahren. Ein Hauptvorwurf lautete, Preisig habe die Willensäusserung der Patientin mit deren Urteilsfähigkeit verwechselt. Dagegen wehrt sich Erika Preisig erneut entschieden:
«Ich konnte im direkten Gespräch nie an ihrer Urteilsfähigkeit zweifeln. So hat die Patientin freiwillig eine Beistandschaft angenommen und den Eintritt ins Pflegeheim vorgenommen. Das hätte sie nicht tun können, ohne urteilsfähig zu sein.»
Dann kommt die Sprache auf das Gutachten von Psychiatrie-Professor Marc Graf über die Urteilsfähigkeit der Patientin, das dieser post mortem erstellt hat. «Ich kann nicht nachvollziehen, dass die Patientin eine schwere Depression gehabt haben soll», wehrt sich Preisig gegen eine Erkenntnis dieses Gutachtens. «Psychiater stellen leicht die Psychosomatik in den Vordergrund, und klären dann die Somatik unzureichend ab. Ich erlebe das in der Hausarztmedizin täglich,»
Eine somatische Krankheit hat körperliche Ursachen - im Gegensatz zu einer psychischen Krankheit. In der Krankheitsgeschichte der Patientin im Fall Preisig ist umstritten, welcher Aspekt im Vordergrund stand. Psychosomatik bezieht sich auf psychisch-körperliche Wechselwirkungen.
Dass Preisig keine Fachperson fand, die ein psychiatrisches Gutachten über die Urteilsfähigkeit der sterbewilligen Patientin erstellen wollte, hat sie immer wieder vorgebracht und in ihrer Verteidigung betont. Gerichtspräsident Rosa fragt sie nun aber, ob es nicht etwas gebracht hätte, sich wenigstens vorgängig zur Sterbebegleitung mit einem Facharzt der Psychiatrie zu beraten, etwa über eine Fortsetzung der Medikation. Eine solches Gespräch sei nirgends dokumentiert. Der Gerichtspräsident fragt:
«Ich rede hier nicht von einer Abklärung. Aber haben Sie wirklich keinen Psychiater gefunden, mit dem Sie sich wenigstens hätten austauschen können?»
«Das wäre eine Möglichkeit gewesen», antwortet Preisig und gibt zu, gar nicht daran gedacht zu haben. Eine befreundete Psychiaterin habe ihre Anfragen umgehend abgeblockt, weil sie sich nicht mit einem Sterbewunsch befassen wollte. Die Patientin sei schliesslich von zwei Hausärzten abgeklärt worden.
Thema vor Kantonsgericht ist auch der abschlägige Bescheid der Sterbehilfeorganisation Exit, an die sich Frau M. gewendet hatte, bevor sie zu Erika Preisig ging. Die Einschätzung und der medizinische Befund von Exit, wieso sie Frau M. ohne eine weitere vertiefte psychiatrische Abklärung nicht als Patientin zulassen wolle, deckten sich weitgehend mit dem Gutachten von Professor Graf, stellt der Gerichtspräsident fest. Preisig ihrerseits hält den Exit-Bescheid für «wenig fundiert». Ein Kernpunkt sei, dass sich Frau M. nach zwei stationären Aufenthalten strikt geweigert hätte, nochmals zu einem Psychiater zu gehen. Sie sei zu oft durch die psychiatrische Behandlung traumatisiert worden.
«Solange ich eine Patientin als urteilsfähig beurteile, kann ich mich nicht über ihren Wunsch hinwegsetzen, dass sie keine psychiatrische Behandlung mehr haben will»,
verteidigt sich Preisig.
Was klar ist: Wie schon vor der ersten Instanz ist auch die Berufungsverhandlung für alle Beobachterinnen und Beobachter eine schwere Kost und nicht leicht zu verfolgen. Gerichtspräsident Rosa bespricht ausführlich mit Preisig frühere Gutachten und Arztberichte, die sich in der langen Krankheitsgeschichte von Frau M. angesammelt haben. In gewissen, so in einem Austrittsbericht aus der Psychiatrie Baselland, wurden Frau M. durchaus gute Prognosen und Heilungschancen eingeräumt. Preisig hält aber auch diese für wenig zutreffend. Frau M. sei gegen ihren Willen in der Psychiatrie festgehalten worden. Darum habe sie «irgendwann einmal begriffen, dass sie das Spiel mitspielen» müsse, um wieder herauszukommen. Das habe dann den Austrittsbericht verfälscht. Dieser habe nicht ihren wahren Gemütszustand wiedergegeben. Preisig zitiert einen Satz, den Frau M. gesagt haben soll:
«Manchmal ist man cleverer als die Psychiater.»
Die Nachmittagssitzung in der zweitinstanzlichen Verhandlung gegen Sterbehelferin Erika Preisig hat um 14 Uhr begonnen. Weiterhin befragt Gerichtspräsident Enrico Rosa die Beschuldigte im Zusammenhang mit früheren Arztberichten und Aussagen von Fachpersonen. Erika Preisig soll jeweils Stellung nehmen zu all den Befunden, die Frau M. jeweils psychische Störungen attestiert hatten.
Preisig verteidigt ihre Position konsequent. Selten habe sie eine willensstärkere Patientin gehabt wie Frau M. Diese habe sogar ihre Abdankung selber geplant, folglich genau gewusst, worauf sie sich einlässt. Fast schon flehentlich stellt Preisig irgendwann fest:
«Ich finde es unglaublich, dass es jemandem so schwierig gemacht wird, der sterben will. Frau M. konnte so viele Gedankengänge nachvollziehen, sie konnte so viele Entscheidungen selber treffen. Ich habe extreme Mühe damit, wenn der Gutachter ihr gerade in der Frage des Sterbewunsches die Urteilsfähigkeit abspricht.»
Nach rund viereinhalb Stunden beendet Gerichtspräsident Rosa seine Befragung zum Hauptanklagepunkt der vorsätzlichen Tötung. Staatsanwältin Evelyn Kern und Verteidiger Moritz Gall befragen die Beschuldigte nur kurz. Aus Sicht der Anklage dränge sich nur eine Frage auf, sagt Kern: Warum habe Preisig ausgerechnet in einer Phase, in der sie sich mit den Psychiatern teilweise zerstritten hatte, eine problematische Patientin wie Frau M. angenommen? Preisigs Replik ist die Quintessenz ihrer vorgängigen Erläuterungen:
«Ich war mir 100-prozentig sicher, dass die Frau urteilsfähig war. Ich hatte Berichte vorliegen, die ihr bestätigten, zu allen Fragen urteilsfähig zu sein. Ich habe mit ihr mehr Gespräche als gewöhnlich durchgeführt. Ich habe einen zweiten Arzt beigezogen. All das hat mich in meiner Überzeugung bestärkt. Hätte ich nur den geringsten Zweifel an ihrer Urteilsfähigkeit gehegt, hätte ich sie abgelehnt.»
Staatsanwältin Evelyn Kern beginnt ihr Plädoyer, indem sie einen Widerspruch aufzeigt. Sie sieht einen Konflikt zwischen dem Recht und der in der Schweiz verbreiteten liberalen Haltung zur Suizidhilfe. Damit meint sie, dass die Vorinstanz kein rechtskonformes Urteil gesprochen, sondern dem gesellschaftlichen Druck nachgegeben habe. Deshalb sei Preisig im Hauptanklagepunkt freigesprochen worden. Dies will die Staatsanwältin nun im zweitinstanzlichen Prozess korrigieren.
Kern spricht von einem willkürlichen Freispruch, weil das Baselbieter Strafgericht das Selbstbestimmungsrecht der Patientin höher gewichtet hätte als die objektiven Feststellungen der Untersuchung. Widersprüchlich sei dies insbesondere deswegen, als das Strafgericht sonst der «korrekten Schlussfolgerung» in Marc Grafs Gutachten zur Urteilsunfähigkeit der Patientin weitgehend gefolgt sei. Die Vorgabe des Bundesgerichts sei klar. Es müssten alle drei Voraussetzungen gegeben sein, damit ein Sterbewunsch als objektiv anerkannt werden könne: ein vernünftiges Verständnis des Todes, eine realistische Einschätzung der aktuellen Lebenssituation und die Gewichtung der eigenen Zukunftsmöglichkeiten. Die Staatsanwaltschaft wehre sich vehement dagegen, dass ein Gericht diese Vorgabe aufweiche und einzelne Punkte höher gewichte als andere.
Die Staatsanwältin fordert, dass Preisig zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt wird und ein Tätigkeitsverbot für diese Zeit erhalten soll.
Verteidiger Moritz Gall erklärt, warum das Strafgericht vom Gutachten abgewichen sei. Psychiater Marc Graf habe nämlich selber Unschärfen und voreilige Schlüsse zugegeben. Er habe also sein eigenes Gutachten relativiert. Ebenso wenig stimme, dass er eine Koryphäe auf diesem Gebiet sei. Er mag dies in anderen Bereichen sein. Aber dies war sein bisher erstes und einziges Gutachten zur Urteilsfähigkeit einer sterbewilligen Person. Gall sagt:
«Es war ein Anfänger, der das Gutachten geschrieben hat.»
Nicht zuletzt habe Graf unerklärlicherweise diverse wichtige Unterlagen nicht beigezogen, so etwa die Berichte der beiden stationären Aufenthalte in der Psychiatrie Liestal. Was sei von einem Gutachten zu halten, für welches der Gutachter nicht einmal den Austausch mit seinen eigenen Fachkollegen vornehme, fragt Gall rhetorisch. Aus welchen Gründen auch immer dies geschehen sei, Fakt bleibe, dass Grafs Gutachten aufgrund unvollständiger Unterlagen erstellt wurde und damit rechtsungültig sei.
Nichts anfangen könne Gall schliesslich mit der These ins Grafs Gutachten, Frau M's. Weigerung, sich weiter psychiatrisch behandeln zu lassen, sei Ausdruck ihrer psychischen Beeinträchtigung gewesen. Vielmehr sei dies eine logische, konsequente und sehr nachvollziehbare Willensäusserung gewesen aufgrund ihrer negativen Erfahrungen während der stationären Aufenthalte, wo sie gegen ihren Willen festgehalten worden sei.
Ursprünglich habe Frau M. die Bereitschaft gezeigt, sich psychiatrisch abklären zu lassen, argumentiert Gall weiter. Erst als sie nach jahrelanger Leidenszeit keine Hilfe erhielt und niemand ihr helfen konnte, habe sie ihren Sterbewunsch entwickelt.
«Frau M. war zweifelsfrei vollumfänglich urteilsfähig, auch wenn sich ihre Meinung nicht mit jener des Gutachters deckte»,
folgert der Verteidiger in seinem Plädoyer.
Ganz zum Schluss entwickelt Moritz Gall einen Gedanken, der bisher zu wenig beachtet worden sei und den auch die Staatsanwaltschaft nie schlüssig erklärt habe: die Frage nach dem Motiv einer vorsätzlichen Tötung. Habe seine Mandantin etwa einen «perversen Trieb» ausgelebt und eine Patientin bewusst in den Tod geschickt, obschon sie genau wusste, dass diese urteilsunfähig war? So dumm könne Preisig nicht sein, die Staatsanwaltschaft förmlich dazu zu zwingen, gegen sie Anklage zu erheben.
Anstatt sich nochmals zu rechtfertigen oder sonstwie zu erklären, äussert die Beschuldigte vier Wünsche.
Die Urteilsverkündung folgt in einer Woche, am Freitag 7. Mai ab 14 Uhr.