SP-Nationalrat Corrado Pardini sieht eine «historische Chance» für die Sozialdemokratie in der Schweiz.
Das Fuder sei überladen. Mit dieser Botschaft startete die SP im Juni 2016 das Referendum gegen die Unternehmenssteuerreform (USR III). Und als es zustande gekommen war, fasste sie eine altbekannte Parole für den Abstimmungskampf ins Auge: «Den Staat nicht kaputtsparen». Schnell wurde den Genossen aber klar: Beide Slogans reichen kaum zum Sieg. Deshalb entschied sich die Parteispitze für die Formel «Milliarden-Bschiss am Mittelstand». Ein Tabubruch bei den Sozialdemokraten.
Das bestätigt der Fraktionschef. «Wir machen zwar längst pragmatische Politik für breite Schichten», sagt Roger Nordmann. Doch verbal habe die SP nicht den Mut gehabt, eine Sprache zu sprechen, die alle verstünden. «Sie trat oft auf wie ein Hilfswerk, hatte den Hang zur Sektiererei. Davon wollen wir wegkommen.» Die «sehr harten Zeiten» nach dem Rechtsrutsch 2015 hätten die SP «in einen Lernprozess gezwungen».
Nach dem Erdrutschsieg bei der USR III ist Aufbruchstimmung spürbar. «Der SP bietet sich eine historische Chance», sagt Nationalrat Corrado Pardini, Mitglied der Unia-Geschäftsleitung. «Wir müssen selbstbewusst 30 Prozent Wähleranteil anstreben. Wir wissen, was die Menschen und unser Land brauchen. Deshalb sollten wir mindestens einen Drittel der Schweiz vertreten.» Vieles deute darauf hin, dass «wieder ein sozialdemokratisches Zeitalter» entstehe. Das habe mit der Revolution von rechts zu tun um Donald Trump, Marine Le Pen, Geert Wilders und Christoph Blocher. Aber auch mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen, welche die vierte industrielle Revolution nach sich zögen.
Für die SP wäre es entscheidend, Schreiner, Verkäuferinnen, Angestellte, Ingenieure und Polymechanikerinnen zurückzugewinnen. «Sie bilden in der Schweiz die sogenannte Mittelschicht in ihrer Kernsubstanz», sagt Pardini. Dass er von Mittelschicht und nicht von Mittelstand spreche, sei zwar nur ein «subtiler Unterschied, doch wir haben das Ständewesen überwunden».
GLP und BDP seien am Zerfallen, denkt Pardini. Aber auch die FDP, die sich unter Präsidentin Petra Gössi auf einem vom Finanzplatz und Economiesuisse abhängigen Kurs befinde, sei «wieder auf dem Weg zur Kleinpartei». Eine Analyse, die Nordmann weitgehend teilt. «In der Schweizer Parteienlandschaft hat eine De-Kartellisierung stattgefunden», sagt er. «Wir sind für neue Leute wählbar geworden.» Das Potenzial der SP schätzt er, ähnlich wie Pardini, auf 30 Prozent ein.
Sollte es die SP, die 2015 auf 18,8 Prozente kam, erreichen, wäre das ein historischer Erfolg. Noch hat in der Schweiz keine Partei die 30-Prozent-Marke geknackt, seit es Proporzwahlen gibt (1919). Die SP hatte 1931 ihr Allzeithoch mit 28,7 Prozent. Und zwischen 1928 (27,4) und 1979 (24,4) war sie ununterbrochen stärkste Partei.
In den Kantonen gelang es der SP immer wieder, die 30-Prozent-Hürde zu knacken. Seit 1971 schaffte sie dies in zwölf Kantonen: Schaffhausen (11-mal), Basel-Stadt (9), Glarus (8), Jura und Neuenburg (je 5), Bern (3), Basel-Landschaft und Zug (je 2), Genf, Freiburg, Solothurn und Appenzell Ausserrhoden (je 1-mal). Im Kanton Schwyz schrammte sie 1975 (29,3) nur knapp an dieser Marke vorbei.
Dass die SP neu auf den Begriff Mittelstand setzt, kommt intern nicht überall an. «Mittelstand ist kein Begriff für eine Mehrheitsstrategie, sondern für einen Drittel der Gesellschaft», sagt Nationalrat Cédric Wermuth. «Verwendet man diesen Begriff, verschliesst das den Zugang zu gegen einer Million Menschen, die im Bereich Armut leben.» Die politische Vernachlässigung dieser Menschen habe in Deutschland die AfD wieder attraktiv gemacht. Und Juso-Präsidentin Tamara Funiciello sagt: «Es ist ein definitionsloser, leerer Begriff.»
Es war vor allem SP-Nationalrätin Jacqueline Badran, die sich für den «Mittelstand» einsetzte. «Wir missbrauchten ihn eigentlich als Stellvertreter-Wort für alle Menschen, die von der Lohnarbeit leben, welche die Gewinne der Eigentümer respektive Aktionäre zu zahlen haben», sagt sie. Lange habe sich die SP auf die Manager als Abzocker fokussiert. Eine Logik, die sie mit der Kampagne zur USR III durchbrochen habe. «Denn Manager sind Lohnabhängige, die genauso von Lohn und Arbeit leben wie Angestellte und Arbeiter», sagt Badran. «Die wahre Konfliktlinie besteht in der Umverteilung zwischen Arbeit und Kapital.» Mittelstand als Begriff sei in der SP salonfähig geworden. «Alle, auch die ganz Linke, haben verstanden, was wir damit meinen», sagt Badran: «Das Kapital bereichert sich auf Kosten der Arbeit, während den Arbeitenden immer mehr aufgebürdet wird.
Zum Kommentar von Nordwestschweiz-Chefredaktor Patrik Müller