Beinahe hätten Städte und Agglomerationen bei der Gemeindereform 1 die vielen kleineren Landgemeinden überstimmt. Jetzt sollen diese mehr Stimm-Gewicht erhalten.
Mathias Küng
Am 27. September 2009 stimmte der Aargauer Souverän über ein vom Grossen Rat beschlossenes erstes Paket von Vorschlägen für eine Gemeindereform Aargau (Gerag) ab. Der Abstimmungstag verlief sehr spannend. Alle Einzelvorlagen dieser Reform wurden abgelehnt - wenn auch nur sehr knapp. Es fiel auf, dass viele Landgemeinden zum Teil sehr deutlich Nein sagten, während die Städte - meist deutlich - zustimmten.
Bis 1798 war in der Schweiz die Tagsatzung das einzige eidgenössische Organ. Jeder Stand hatte eine Stimme. Eidgenössische Belange wurden ausschliesslich durch das Ständemehr entschieden. Als 1848 der moderne Bundesstaat gegründet wurde, wollten die Kantone sicherstellen, dass es nicht zu einer zentralistischen Verfassung kommen kann. Es wurde wie in den USA ein Parlament mit zwei Kammern geschaffen, und den Kantonen blieb nebst der Volkskammer (Nationalrat) im Ständerat die Ständestimme erhalten. Damit trug man auch der föderalistischen Tradition der Schweiz Rechnung. Zusätzlich wurde das Ständemehr bei obligatorischen Volksabstimmungen geschaffen. Das Ständemehr als solches ist akzeptiert, doch wird immer wieder über dessen Ausgestaltung diskutiert. Dies, weil beim Ständemehr die Stimme eines Innerrhoders bzw. einer Innerrhoderin gleich viel wiegt wie die von 41 Zürchern. (MKU)
Den in jener Abstimmung offenbar gewordenen Stadt-Land-Graben nimmt SVP-Grossrat Roger Fricker (Oberhof) zum Anlass, mit dem Ruf nach einer Änderung der Kantonsverfassung sicherzustellen, dass nicht eine Minderheit einwohnerstarker Gemeinden eine Mehrheit einwohnerschwächerer Gemeinden überstimmen kann. Analog zum Ständemehr auf eidgenössischer Ebene fordert er in einer von rund zwei Dutzend Grossrätinnen und Grossräten unterschriebenen Motion die Einführung eines Gemeindemehrs in der Kantonsverfassung für kantonale Abstimmungen.
In der Begründung nimmt er Bezug auf die Gerag-Abstimmung und schreibt: «Beinahe hätten die beiden bevölkerungsreichen ‹Stadtbezirke› Aarau und Baden alle übrigen Bezirke überstimmt und die Vorlage gegen den mehrheitlichen Willen der Landgemeinden entschieden.» Die Tatsache, dass an jenem Sonntag knapp ein Drittel der Gemeinden über mehr als zwei Drittel der Gemeinden «regieren bzw. diese überstimmen könnte, ist Anlass genug, darüber zu diskutieren», so Fricker. Er verspricht sich von einem Gemeindemehr eine Stärkung der Gemeinden und des sozialen Friedens. Es könnte gewährleisten, «dass die ländlichen Gemeinden nicht durch die städtischen Agglomerationen überstimmt werden und somit im Aargau mehr Gewicht erhielten».
Er habe sich auch überlegt, ob es eine Möglichkeit gäbe, das Gemeindemehr nur bei Vorlagen, welche die Gemeinden direkt tangieren, anzuwenden, ergänzt Fricker gegenüber dieser Zeitung. Zum Beispiel bei Änderungen im Finanzausgleich. Doch alles betreffe irgendwie die Gemeinden. Fricker, Gemeindeammann in Oberhof, will die Gemeindeautonomie stärken und er will, dass die «Kleinen» dank Gemeindemehr etwas zu sagen haben. Im Wissen, dass dies die «Grossen» einschränkt und das Prinzip «Ein Mann, eine Frau, eine Stimme» durchbricht.
«Der Kanton bildet die Gemeinden»
Reto Steiner, Professor am Kompetenzzentrum für Public Management der Uni Bern - einer seiner Schwerpunkte ist Gemeindeforschung - und im Kanton Bern selbst Grossrat, erachtet Frickers Vorstoss als «sehr aussergewöhnlich und problematisch». Es gebe einige Kantone, etwa Uri, in denen die Gemeinden gleichzeitig die Wahlkreise für die Kantonsparlamentswahlen bilden. Das gibt den Gemeinden eine starke Stellung. Zudem hätten die Interessenverbände der Gemeinden in vielen Kantonen einen starken Einfluss. Ein Gemeindemehr auf kantonaler Ebene wäre aber ein Novum.
Im föderalistischen Bundesstaat Schweiz gebe es natürlich das als Prinzip unbestrittene Ständemehr. Dies leite sich daraus ab, dass die Kantone seinerzeit den Bund gegründet hätten und ihn bildeten. Sie umfassen auch mehrere Sprach- und Kulturräume. All dies rechtfertige das Ständemehr zur Stärkung des Zusammenhalts. Demgegenüber bilden aber nicht die Gemeinden den Kanton, sondern der Kanton trägt die Verantwortung für die Gemeinden, so Steiner. Die Gemeinden haben nach Bundesverfassung zwar eine Autonomie, aber «nur nach Massgabe des kantonalen Rechts». Anders als auf Bundesebene seien Gemeinden auch nicht Kleinstaaten, die sich zusammenschliessen. Deshalb wäre ein Gemeindemehr «systemfremd», so Steiner. Mühe hätte er auch damit, wenn in einem Kanton ein kleiner Teil der Bevölkerung die Mehrheit dominieren könnte. «Das wäre problematisch. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass eher in den Städten die Wirtschafts- und Steuerkraft hoch ist. Und dass von dort und den Agglomerationsgürteln via Finanzausgleichssysteme Mittel in schwächere ländliche Gemeinden fliessen, von denen viele sonst gar nicht mehr existieren könnten.»