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Die Gerichtsverhandlung in Winterthur gibt Einblick in ein neues Milieu Jugendlicher. Sie gehen in die Moschee, um cool zu sein und um etwas Aufregendes zu erleben. Und: Die Angeklagten sehen sich als Opfer.
Die zehn Angeklagten gehen unterschiedlich an den Kameras vorbei ins Gerichtsgebäude. Einige verstecken sich hinter einem Schal. Andere stolzieren die Treppe hoch.
Ein 21-Jähriger klopft sich mit der Faust auf die Brust und ruft zu den Journalisten: «Sieht so ein Salafist aus, oder was?» Er trägt eine Lederjacke mit Pelzkragen und kurze Haare. Das Klischee eines Salafisten erfüllt er nicht; kein weisses Gewand, kein fuseliger Bart.
Vor Gericht steht die Jugendgang der An’Nur-Moschee. Angeklagt sind zudem der Imam und der Vereinspräsident. Es besteht der Verdacht, dass sie im Winterthurer Gotteshaus Nachwuchs für den Dschihad, den Heiligen Krieg, rekrutiert haben.
Das ist der Hintergrund der Anklage. Vordergründig geht es aber nur um einen einzelnen Vorfall an einem Dienstagabend im November 2016. Damals herrschte eine explosive Stimmung. Gemäss Staatsanwaltschaft sollen die jungen Männer zwei Verräter in den eigenen Reihen erkannt und diese gequält haben, um ein Geständnis zu erpressen.
Die Befragungen beginnen mit einem 20-Jährigen, der einer der Haupttäter sein soll. Er trägt ein türkisfarbenes Poloshirt und lange Haare, die er zu einem «Pfürzi» zusammengebunden hat. Er gesteht, eines der Opfer angespuckt und beschimpft zu haben. «Idiot» und «Dummkopf» habe er sein Gegenüber genannt. Aber mehr nicht. Er verweist auf die Polizeifotos von den Opfern, auf denen man keine Verletzungen sehe. Ein anderer sagt, wenn sie jemanden schlagen würden, dann würde man dies dem Opfer danach deutlich ansehen.
Der Richter entgegnet, eine Beule sei dokumentiert. Und er zitiert aus dem Rapport der Polizistin, die an diesem Abend Dienst hatte und die Opfer beschrieben hat: «Persönlich habe ich in meiner Laufbahn als Polizistin noch nie so eingeschüchterte Menschen gesehen. Ihre Gesichter widerspiegelten pure Angst.»
Der Angeklagte im Poloshirt meint, er habe auch Angst gehabt, als die bewaffneten Polizisten die Moschee gestürmt hätten. Er sieht sich selber als Opfer: «Meine Freiheit wurde beraubt, nicht die eines anderen.»
Ein halbes Jahr sei er in Untersuchungshaft gesessen, nur weil er jemanden angespuckt und beschimpft habe. Er sei damals erst 18 Jahre alt gewesen und habe eine Lehre absolviert. Darauf habe der Staat keine Rücksicht genommen. Mit Mördern und Messerstechern sei er im Gefängnis gesessen, klagt er.
Die anderen jungen Männer machen ähnliche Aussagen, meist aber weniger ausführlich. Alle sehen sich als Opfer einer Verschwörung von Medien und Staatsanwaltschaft, die eine islamistische Gefahr heraufbeschwören würden.
Eines der überzeugendsten Argumente der Angeklagten ist der Verweis auf das Vorgehen der Polizei. Diese nahm die Beschuldigten nicht fest, als sie an diesem Novemberabend die Moschee gestürmt hatte, sondern erst drei Monate später.
Die Polizisten vor Ort erkannten keine für sie offensichtliche Straftat. Mehrere Wochen vergingen, bis die Opfer Anzeige erstatteten. Weitere Wochen verstrichen, bis die Polizei im Morgengrauen die Beschuldigten aus dem Bett holte und in Handschellen abführte.
Was nach dem ersten Prozesstag und den zehn Befragungen feststeht: In der Moschee kam es an diesem Abend zu einem wüsten Streit und alle Beschuldigten waren anwesend. Belegt ist auch, dass Sprüche wie «Dammer Rasek» fielen, arabisch für «Ich schlage dir auf den Kopf». Doch ob auf die Worte Taten folgten, ist umstritten.
Die Männer stellen die Auseinandersetzung so dar, als seien die «Verräter» freiwillig ins Büro des Imams gegangen, um ein Geständnis abzulegen und sich so ihrer Last zu befreien. Teilweise verstricken sie sich dabei aber in Widersprüche.
Die Moschee war zu dieser Zeit ein Jugendkulturlokal für ein spezielles Milieu. Ein junger Türke erklärt, weshalb er in die arabische Moschee gegangen sei: «In der türkischen Moschee hat es fast keine Leute, nur Alte.» Er gehe nicht nur in die Moschee, um zu beten, sondern um Kollegen zu treffen, die er vom Fussball her kenne.
In diesem Umfeld ist es normal, wenn man auf dem Handy ein Hinrichtungsvideo oder IS-Propaganda gespeichert hat. Es sind die neuen Symbole von Halbstarken, welche die Ideologie dahinter teilweise nur zur Hälfte kapieren.
Der 20-Jährige, der auch wegen der Gewaltfotos angeklagt ist, sagt: «Ich bin in vielen Whatsapp-Gruppen und erhalte 80 Nachrichten pro Tag, Ausgangschat, Klassenchat und so.» Er komme gar nicht dazu, alle Fotos auf seinem Handy anzuschauen. Die Bilder, wegen derer er nun zusätzlich angeklagt sei, stammten aus dem Klassenchat, vermutet er.
Die jungen Islamisten ziehen sich wieder dunkle Schals vors Gesicht, um aus dem Gerichtsgebäude zu treten. Doch die Kameraleute haben ihr Equipment längst abgebaut. Als einige Jungs merken, dass ihre Maskerade überflüssig ist, kichern sie.