Schweizer Sex-Studie
Sexualmedizinerin: «Das Ausmass des Sexting hat uns erschreckt»

Es ist ein Blick ins abgedunkelte Schlafzimmer, unter die Bettdecke, in die Intimsphäre von 7142 jungen Erwachsenen. Diese haben im Rahmen einer gross angelegten Studie der Universitätsspitäler Lausanne und Zürich Fragen zu ihrem Liebes- und Sexleben beantwortet. Bis ins Detail.

Annika Bangerter
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Eine Studie hat das Sexleben der Schweizerinnen und Schweizer untersucht. (Symbolbild)

Eine Studie hat das Sexleben der Schweizerinnen und Schweizer untersucht. (Symbolbild)

Shutterstock

95 Prozent dieser Teilnehmer im Alter von 24 und 26 Jahren haben Bett und Körper mit mindestens einer Person geteilt; die meisten zählen zwei bis sieben Sexualpartner.

15 Prozent der Frauen und 13 Prozent der Männer berichteten über homosexuelle oder bisexuelle Kontakte. Im Durchschnitt erlebten die Befragten das erste Mal im Alter von knapp 17 Jahren. Einige Jahre später, zum Zeitpunkt der Studienumfrage, führten drei Viertel von ihnen eine feste Beziehung. Fast alle hatten bereits Oralsex (96 Prozent); die Hälfte der befragten Frauen und Männer (49 Prozent) gaben zudem an, Analsex gehabt zu haben.
Die Studie geht aber weit über die Fragen nach dem wem, wie oft und den Praktiken hinaus.

1. Sexuelle Übergriffe

Die Studie zeigt: Eine beträchtliche Zahl von Frauen wurde schon Opfer von sexueller Gewalt. Knapp 16 Prozent der Teilnehmerinnen haben sexuellen Missbrauch oder Vergewaltigung erlebt. Jede sechste Frau also. «Das deckt sich in etwa mit den Resultaten von internationalen Studien. Wir haben allerdings auf deutlich niedrige Zahlen in der Schweiz gehofft», sagt Brigitte Leeners, Studienautorin und leitende Ärztin der Klinik für Reproduktionsmedizin am Uni-Spital Zürich. Bei den Männern ist die Zahl der sexuellen Missbrauchsopfer mit 2,8 Prozent weitaus tiefer.

2. Sex ohne Lust

Auffällig ist zudem, dass deutlich mehr Frauen als Männer schon Sex hatten, ohne diesen wirklich zu wollen (53 Prozent gegenüber 23 Prozent). Als Erklärung kreuzten die meisten Befragten an, dass sie dies für «eine gute Beziehung» oder aus Liebe gemacht hätten.
Häufiger als allgemein angenommen können junge Erwachsene die Sexualität nicht befriedigend ausleben.

Jede zehnte Frau gab an, an einer Sexualstörung zu leiden. Was das genau heisst, muss gemäss Studienautorin Leeners noch differenzierter ausgewertet werden. «Es kann sich beispielsweise um Lustlosigkeit, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr oder Orgasmusstörungen handeln», sagt sie. Insbesondere Lustlosigkeit würde oft von ihren Patientinnen angesprochen: «Viele Frauen wissen nicht, was ihnen im Bett gefällt und wie sie genau eine erfüllende sexuelle Beziehung gestalten können», sagt die Ärztin.

Auch bei den Männern klappt nicht immer alles wie gewünscht. 17,5 Prozent der Studienteilnehmer kommen zu rasch – ejakulieren also vorzeitig. Ebenso viele berichteten von Erektionsproblemen. Allerdings bezeichnete nur ein Bruchteil diese als moderat oder schwer.

3. Geschlechtskrankheiten

Etwa die Hälfte der jungen Erwachsenen (45 Prozent) hatte sich schon auf HIV testen lassen. Bei den Resultaten überwog fast immer die Erleichterung: negativ. Allerdings zeigt die Studie der Universitätsspitäler Zürich und Lausanne, dass sich eine von zehn Personen bereits einmal mit einer sexuell übertragbaren Infektion angesteckt hatte. Am häufigsten mit Chlamydien (40 Prozent), gefolgt vom Papillomavirus (31,2 Prozent) und Herpes (16,5 Prozent).

Das erstaunt Barbara Berger, Geschäftsleiterin des Dachverbands Sexuelle Gesundheit Schweiz, nicht: «In allen Altersgruppen sind die Zahlen in den vergangenen Jahren angestiegen», sagt sie. Die meisten Menschen wüssten, dass durch ein Kondom das Risiko vor sexuell übertragbaren Infektionen sinke. «100-prozentigen Schutz bietet es jedoch nur vor HIV», betont Berger. Sie warnt allerdings vor Alarmismus. Vielmehr zeigten die relativ hohen Fallzahlen, dass sich mittlerweile mehr Menschen testen und behandeln liessen, sagt die Fachfrau.

3. Online-Dating

Die letzte Studie über das Sex- und Liebesleben junger Schweizer liegt mehr als 20 Jahre zurück. Damals, im Jahr 1995, wischten die Befragten ihre möglichen Partner noch nicht durch Dating-Apps wie Tinder. Und heute? Mehr als die Hälfte kreuzte an, eine solche Online-Plattform genutzt zu haben. Männer (62 Prozent) etwas mehr als Frauen (44 Prozent). Die meisten von ihnen trafen sich mit den Online-Bekanntschaften im realen Leben. 35 Prozent der Männer und 22 Prozent der Frauen landeten nach eigenen Angaben mit diesen Dates im Bett.

4. Sexting

Nicht nur Dating-Apps haben in den vergangenen Jahren das Liebesleben – oder zumindest das Kennenlernen – verändert. Mit den Smartphones entstanden neue Möglichkeiten, Lust zu verbreiten. Fast drei von vier jungen Erwachsenen haben gemäss Studie schon erotische Textnachrichten, sexy Fotos oder Videos von sich verschickt. Und fast 80 Prozent empfingen auch schon solche Mitteilungen auf ihrem Handy.

Doch die digitale Leidenschaft birgt auch eine Schattenseite: den lockeren Umgang mit intimen Nachrichten. Insgesamt gaben 22 Prozent der Befragten an, schon einmal solche Inhalte weitergeleitet zu haben. Ohne Einverständnis des Senders. Dabei waren Männer mit 28 Prozent (im Gegensatz zu 16 Prozent der Frauen) überrepräsentiert. «Das Ausmass des Sexting hat uns erschreckt», sagt Sexualmedizinerin Brigitte Leeners. Sie sieht von Lehrern bis Ärzten sämtliche Fachleute in der Pflicht, Sexting stärker zu thematisieren. «Es braucht noch mehr Sensibilisierung und Aufklärung», sagt Leeners.

Aufklärung – je nach Kanton unterschiedlich

Die Studie über die Sexualität junger Erwachsener zeigt, dass Geschlechtskrankheiten, Übergriffe und Sexting verbreitet sind. Hat die Sexualaufklärung versagt? Nein, sagt Barbara Berger, Geschäftsleiterin vom Dachverband «Sexuelle Gesundheit Schweiz». «Aber es fehlt an einer flächendeckenden Sexualaufklärung, die allen jungen Menschen zugänglich ist.» Noch immer gebe es grosse Unterschiede zwischen den Kantonen. Das zeigt eine neue Untersuchung. Gemeinsam mit der Fachhochschule Luzern hat «Sexuelle Gesundheit Schweiz» die Praxis der Sexualaufklärung unter die Lupe genommen. Die Resultate werden heute Freitag an einer Fachtagung vorgestellt.

Während in der französischen Schweiz externe Fachpersonen die Schülerinnen und Schüler aufklären, liegt die Verantwortung in der Deutschschweiz oft bei den Lehrpersonen. Es erstaunt daher nicht, dass die vermittelten Inhalte stark variieren. Das kritisiert Berger: «Wir brauchen in der Schweiz ein ganzheitliches System, das mehr vermittelt als Biologie.» Sie verweist auf die eben erschienene Sex-Studie. Diese zeigt, dass nach den Freunden und der Mutter die Schule die wichtigste Quelle der Sexualaufklärung ist. (ABA)