«Trittst im Morgenrot daher …»
Schweizer Identität: Brauchen wir eine neue Nationalhymne?

Brauchen wir eine neue Landeshymne? Besonders umstritten ist der Text, mit dem Psalm von 1840 kann man sich immer weniger identifizieren. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) hat 2014 einen Wettbewerb für einen neuen Hymnentext lanciert.

Lukas Niederberger und Erich Hess
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Mit dem nahenden Geburtstag der Schweiz entbrennt die Debatte um die Nationalhymne erneut. (Symbolbild)

Mit dem nahenden Geburtstag der Schweiz entbrennt die Debatte um die Nationalhymne erneut. (Symbolbild)

Keystone

Pro von Lukas Niederberger, Geschäftsführer SGG: «Man möchte doch unsere Werte in der Hymne besingen»

Lukas Niederberger, Geschäftsführer SGG

Lukas Niederberger, Geschäftsführer SGG

Ho

Vorausschicken möchte ich, dass manche Zeitgenossen finden, dass es in einer globalisierten, postnationalen Zeit überhaupt keine Nationalhymnen mehr bräuchte. Allenfalls noch Erkennungsmelodien für Staatsempfänge und Fussball-Länderspiele. Ich finde, dass jede Gruppe und Gesellschaft Identitätsmerkmale braucht. Das Singen von Hymnen ist ein wichtiges kollektives Ritual.

Vorausschicken möchte ich auch, dass ich auf der menschlichen Ebene jene verstehe, die an der heutigen Nationalhymne nichts ändern wollen. Manche Menschen leiden an den vielen und raschen Veränderungen im Leben und möchten, dass die Nationalhymne wie ein Fels in der Brandung das Gefühl von Konstanz vermittelt. Andere wollen keine neue Hymne, weil sie emotional mit der jetzigen verbunden sind. Und wieder andere meinen, die Schweiz sei doch eine christliche Nation. Und darum sei ein Gebetstext in ihrer Nationalhymne völlig stimmig. Als Mensch verstehe ich das alles, aber nicht als Bürger eines modernen Staates.

Wenn ich sage, dass es in der Schweiz eine neue Nationalhymne braucht, möchte ich präzisieren: Nur wenige Schweizerinnen und Schweizer wünschen sich eine völlig neue Nationalhymne, aber viele wünschen sich einen neuen Hymnentext. Die Melodie, die Alberik Zwyssig anno 1835 komponiert hat, ist zwar nicht einfach zu singen, aber die meisten Schweizerinnen und Schweizer mögen diese Melodie. Hingegen können sich immer weniger Menschen in unserem Land mit dem Text des «Schweizerpsalms» aus dem Jahr 1840 identifizieren.

Nur zehn Prozent können die erste der vier Strophen von «Trittst im Morgenrot daher» auswendig singen. Aus diesem Grund hat die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) vor drei Jahren einen Künstlerwettbewerb für einen neuen Hymnentext lanciert. Bedingung war, dass der neue Hymnentext auf dem Inhalt der Verfassungspräambel von 1999 basieren musste. In diesem Text werden die traditionellen und zentralen Werte der Schweiz genannt: Freiheit, Unabhängigkeit, Frieden sowie die Sorge um die sozial Schwächeren. Es ist für die Schweiz eine enorme Chance, wenn sie künftig ihre Werte in der Hymne besingen kann und die Hymne zur nationalen Visitenkarte wird.

Kontra von SVP-Nationalrat Erich Hess: «Keine blutigen Schlachten, nur Hoffen auf Allmächtigen»

Erich Hess, Berner SVP-Nationalrat (Archiv)

Erich Hess, Berner SVP-Nationalrat (Archiv)

Keystone

Die Nationalhymne ist ein Symbol eines Landes. Sie verbindet die Menschen, die in diesem Land leben. Sie bedeutet Tradition. Den Liedtext des Schweizerpsalms auszutauschen ist ein Bruch mit der Tradition und mit unserer Geschichte. Mit dem neuen Liedtext will die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) eine zeitgemässe Hymne. Der Zeitgeist ändert sich aber oft und rasch. Wer weiss, ob die neuen Strophen in ein paar Jahrzehnten schon wieder überholt sind.

Der Schweizerpsalm ist älter als der Bundesstaat Schweiz. Schon damals so populär wie «Rufst du, mein Vaterland», unsere alte Nationalhymne. Sie wurde zur gleichen Melodie gesungen wie die britische Hymne, und so wechselte die Schweiz 1961 auf den Schweizerpsalm. Man wollte etwas Eigenes und Unverwechselbares. Offiziell zur Nationalhymne erklärt wurde der Schweizerpsalm übrigens erst 1981 und ist somit gleich alt wie ich. Jetzt wieder an der Hymne herumzuschrauben, ist unnötig!

Mit der Nationalhymne besingen wir keine blutigen Schlachten oder Heldentaten, auch keine Beschönigungen oder Überhöhungen – wir hoffen auf den Allmächtigen, der unser Land beschützen möge. Die Strophen in allen vier Landessprachen sind politisch neutral. Man muss weder Christ noch gläubig sein, um sie mit Stolz mitsingen zu können. Der Schweizerpsalm verbindet. Wer das nicht glaubt, soll einmal ein Länderspiel einer Nationalmannschaft besuchen. Dort wird er rasch eines Besseren belehrt.

Auch ist es keine grosse Sache, wenn man die Strophen nicht auswendig kennt. Wo die Hymne gesungen wird, liegt meist auch der Text auf. Und wer heute schon Mühe hat, wird auch den neuen Text nicht auswendig singen können. Was auf Dauer sicher Abhilfe schaffen kann, wäre das Lernen und Singen des Schweizerpsalms in der Schule.

Die SGG hätte das Geld sinnvoller investieren können, statt es für eine neue Hymne zu verschwenden. Warum nicht den Bürgern den Schweizerpsalm mitsamt seinen Strophen und seiner Geschichte wieder näher bringen? Schliesslich verfolgte die SGG bei ihrer Gründung noch «aufklärerisch-patriotische» Ziele. Einige SGG-Vertreter bevorzugen aber wohl sowieso die Europahymne – die hat gar keinen Text.