Fernunterricht
Schulen rüsten sich für Mini-Lockdown – und ziehen Lehren aus dem Frühling

Müssen die Schüler wegen Corona bald wieder zu Hause bleiben? Eine Genfer Epidemiologin schliesst das nicht aus. Die Aussicht auf Fernunterricht bereitet den Lehrern Sorgen – aber sie sind vorbereitet.

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Kampf gegen das Coronavirus: Lehrerin und die Gymnasiasten tragen Maske.

Kampf gegen das Coronavirus: Lehrerin und die Gymnasiasten tragen Maske.

Laurent Gillieron/Keystone (Lausanne, 24. August 2020

Die epidemiologische Lage spitzt sich zu. Die Schulen befassen sich erneut ganz konkret mit dem Szenario Fernunterricht. Primarlehrer des Schulhauses Tannegg in der Aargauer Stadt Baden erkundigen sich in einem E-Mail bei den Eltern, ob sie mit Geräten für Fernunterricht ausgerüstet seien, falls einzelne Klassen in Quarantäne müssen oder falls zum Beispiel ein Mini-Lockdown von zwei Wochen verhängt würde.

Die Schule bietet Hilfe an, falls in einer Familie zu wenig Laptops etc. vorhanden wären. «Wir wollen vorbereitet sein auf möglichen Fernunterricht», bestätigt Schulleiter Raphael Egli. Er hofft, dass es bei einer Eventualplanung bleibt. Eglis Hoffnung entspricht einem breiten Konsens in Politik und Wissenschaft. Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren entschied im Juni, der Unterricht solle im aktuellen Schuljahr grundsätzlich im Vollbetrieb stattfinden.

Präsenzunterricht soll aufrechterhalten werden

Der Zuger Bildungsdirektor Stephan Schleiss sagt: «Wir setzen alles daran, den Präsenzunterricht aufrecht zu erhalten». Und Martin Ackermann, Chef der Covid-19-Taskforce des Bundes, plädierte letzte Woche für schärfere Massnahmen, um Schulschliessungen zu vermeiden.

Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» regte Olivia Keiser, Epidemiologin an der Universität Genf, derweil eine Maskenpflicht auch an Primarschulen sowie gute Lüftungskonzepte an. Sie wisse aber nicht, ob das ausreiche oder nicht doch teilweise Schulschliessungen nötig seien. Keiser wirkte an einer britischen Studie mit, die kürzlich im Fachblatt «The Lancet Infectious Diseases» publiziert wurde. Der Befund: Ein Verbot von Grossveranstaltungen, Homeoffice und Schulschliessungen sind die wirksamsten Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Den Nutzen von Hygienemassnahmen wie regelmässigem Händewaschen konnten die Autoren aus methodischen Gründen nicht messen.

«Wir können nicht beliebig lange nur aus der Ferne unterrichten»

Professor Christoph Berger, Leiter der Abteilung Infektiologie und Spitalhy­giene am Kinderspital Zürich, spricht sich hingegen deutlich gegen die Schliessung von Primarschulen aus. Studien aus Australien, Irland, Schottland und den USA hätten gezeigt, dass Kinder kaum andere Kinder und Lehrer anstecken, wenn die gängigen Abstands- und Hygieneregeln eingehalten würden. «Wir kennen das Coronavirus unterdessen relativ gut. Kinder werden kaum krank und übertragen es deshalb auch viel weniger als Erwachsene. Wenn Kinder unter Kindern bleiben, passiert ihnen nichts.»

Die Rückkehr zum Fernunterricht sehnt sich auch in der Praxis niemand herbei. «Wir würden einen solchen Schritt nur mittragen, wenn er nachweislich einen substanziellen Beitrag zur Eindämmung des Coronavirus leistet», sagt Thomas Minder, Präsident des Verbands der Schulleiter Schweiz. «Ansonsten fehlt uns das Verständnis für diese Massnahme, welche die Kinder, die Eltern und auch die Wirtschaft sehr stark belastet.»

Zudem sei Lernen ein sozialer Prozess. «Wir können nicht beliebig lange nur aus der Ferne unterrichten.» Für einen neuerlichen Lockdown wären die Schulen aber gerüstet. Der Verband habe im Mai all seine 2200 Mitglieder in der Deutschschweiz aufgefordert, sich darauf vorzubereiten, falls der Präsenzunterricht wieder abgesagt würde, so Minder. Auch Dagmar Rösler, Präsidentin des Schweizer Lehrerverbandes, will Schulschliessungen unbedingt verhindern. «Eltern berichten uns davon, dass ihre Kinder noch immer im Rückstand sind, obschon sie wieder normal zur Schule gehen», sagte sie dem «Tages-Anzeiger».

Schulen mit benachteiligten Schülern besonders gefordert

Beim Lockdown im Frühling warnten viele Stimmen, der Fernunterricht werde die Schere zwischen guten und schwachen, zwischen Schülern mit sogenannten bildungsnahen und bildungsfernen Eltern, stärker öffnen. «Wir haben in unseren Befragungen Hinweise auf diese These», sagt Stephan Huber. Der Professor an der Pädagogischen Hochschule Zug forscht über die Auswirkungen des Fernunterrichts und sagt: «In Krisen zeigen sich Unterschiede deutlicher, wie ein Brennglas.»

Die Unterschiede verstärkten sich, wenn die Familie oder die Schule Unterschiede im Lernverhalten und Vorwissen der Schüler nicht kompensieren können. Schulen mit vielen familiär benachteiligten Schülern seien besonders gefordert. Aus pädagogischer Sicht bräuchten manche Schüler mehr Strukturierung und Lernbegleitung. «Lernen ist dabei weit mehr, als sich den aktuellen Lernstoff anzueignen, es geht auch um motivationale, emotionale und soziale Aspekte.»