Schengen-Abkommen
Die Kehrtwende der SP: «Eine eigenständige humanitäre Solidaritätsleistung der Schweiz, um eine legale Migration zu ermöglichen»

2019 setzte sich die SP vehement für ein Ja zur EU-Waffenrichtlinie ein. Sie warnte unter anderem davor, das Schengener-Abkommen zu gefährden, das für die Reisefreiheit und Sicherheit in Europa zentral sei. Nun, beim Frontex-Referendum gelten ihre eigenen Argumente von damals offenbar nicht mehr. Im Gegenteil.

Stefan Bühler 3 Kommentare
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Die EU hatte mit der Verschärfung ihrer Waffenrichtlinie auf die Terroranschläge von Paris im November 2015 reagiert. Die Schweiz musste als Schengen-Mitglied das neue Recht übernehmen. Doch SVP und Schützen ergriffen das Referendum, sie fürchteten um die eidgenössische Schützentradition. Die SP, als proeuropäische Kraft, kämpfte mit Verve für ein Ja. Das war im Frühjahr 2019.

Schon in der Vernehmlassung erklärte die SP: «Die Schweiz wäre angesichts der ohnehin fragiler gewordenen Beziehungen zur EU schlecht beraten, nun im Bereich des Schengen-Rechts eine weitere Baustelle zu eröffnen.» Ihre Delegierten fassten im Mai 2019 mit 106 gegen 1 Stimme die Ja-Parole. Sie folgten Ständerat Daniel Jositsch, der unter anderem mit Schengen argumentierte: Wenn wir die Richtlinie nicht übernähmen, seien wir «aus dem Schengen-System, und somit aus dem gesamteuropäischen Sicherheitssystem, raus.» So steht es im Protokoll der Versammlung.

«Abseitsstehen wäre völlig verantwortungslos»

Auf ihrer Website warnte die SP, die Schweizer Polizei wäre «quasi blind und isoliert. Ein Abseitsstehen wäre völlig verantwortungslos.» Eine Zusammenstellung zeigt, dass damals viele SP-Politikerinnen und Politiker so argumentierten. Auch Aussenpolitiker Fabian Molina. Er sagte im Talk Täglich im April 2019 für den Fall eines Neins: «Dann fallen wir halt aus Schengen raus mit allen Konsequenzen. (...) Ich bin aus einer Generation, die gar nicht mehr weiss, wie es ist, wenn es Grenzkontrollen gibt innerhalb von Europa.» Wieder Schlagbäume an den Grenzen: «Das ist nicht die Zukunft, welche ich den Leuten geben möchte.»

Jetzt aber tönt es ganz anders. Diesmal kommt das Nein zu neuem Schengen-Recht von Links. Jetzt geht es gegen den Ausbau der EU-Grenzschutzagentur Frontex, genauer: gegen den Schweizer Beitrag an diesen Ausbau. Migrationsorganisationen haben das Referendum ergriffen, die SP unterstützt es. Sie kritisieren Menschenrechtsverletzungen an den Aussengrenzen, sogenannte Push-backs - die illegale Abweisung von Asylsuchenden durch Grenzbehörden. Dies unter den Augen und in manchen Fällen wohl unter Beteiligung von Frontex-Beamten.

Diesmal sagt Daniel Jositsch, es gehe bei Schengen nicht nur um Zollfragen und Warenflüsse, sondern um Menschen: «Das rechtfertigt es auch, das Abkommen notfalls aufs Spiel zu setzen.» So im Juni 2021 in der linken Zeitung «p.s.». Und Molina erklärte zur Schengen-Weiterentwicklung: «Bei dieser enormen Frontex-Aufrüstung waren wir dazu ohne legale Fluchtmöglichkeiten als Gesamtpaket nicht mehr bereit.»

«Ein Nein ist nicht ein Nein zur neuen Richtlinie»: Was sonst?

Soweit so klar. Bloss: Push-backs gab es schon vor 2019. Das Verhältnis zur EU ist fragiler denn je. Und der Schengen-Verbleib bei einem Nein unsicher. Trotzdem sagt die SP Nein. Warum die Kehrtwende, Herr Molina?

«Niemand will Schengen aufs Spiel setzen. Ein Nein ist auch nicht ein Nein zur neuen Richtlinie», lautet die überraschende Antwort. «Aber angesichts des massiven Abwehrdispositivs an der EU-Aussengrenze braucht es nun eine eigenständige humanitäre Solidaritätsleistung der Schweiz, um eine legale Migration zu ermöglichen.» Konkret soll der Bund 4000 von der UNO anerkannte Flüchtlinge pro Jahr aufnehmen. Nach einem Nein bleibe der Schweiz 90 Tage, dies zu regeln, erst danach drohe der Ausschluss aus Schengen. Zudem habe der Bund schon mehrfach neues Schengen-Recht mit Verspätung übernommen. «Wir gehen kein Risiko ein.»

Kurz: In dieser Zeit will die SP nach einem Nein innenpolitisch die Aufnahme der 4000 Flüchtlinge durchdrücken - danach sagt sie Ja zum Ausbau von Frontex.

Aber an der Situation an der Aussengrenze, den Push-backs, ändert das Referendum also gar nichts? «Das ist so. Es braucht eine Frontex-Reform», sagt Molina: «Darum ist es wichtig, dass die Schweiz bei Frontex dabei ist.»

Misst man dien SP an ihren Aussagen in der Waffenrechtsabstimmung, ist es ein Poker mit hohem Einsatz.

3 Kommentare
Elisabeth Beck

Bei Politikern ist es halt so: Was ich gestern gesagt habe, war gestern. Heute ist es anders…. Normalerweise werden solche als Windfahnen tituliert. Immer dort dabei sein, wo es am meisten zu pofitieren gibt. Deshalb stehen sie in der Beliebtheitsliste richtigerweise immer am Schluss.

Michel Ketterle

Ich halte das für recht konsequent. Der Poker mag heikel sein aber daraus wird recht deutlich, dass die SP Schengen für gut hält aber Frontex mist ist. Ich unterstütze das.