Pandemie
Salathé, Vernazza & Co: So gut sind unsere Corona-Erklärer – und das ist ihr grösster Irrtum

Seit Wochen sehen wir sie auf allen Kanälen: Virologen, Epidemiologen und Infektiologen, die erklären, wie sich das Coronavirus ausbreitet, was dagegen hilft und welches die Zukunftsszenarien sind. Fünf Wissenschafter – alles Männer – fallen besonders auf. Die CH-Media-Redaktion hat ihre Stärken und Schwächen analysiert.

, christoph bopp,
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Am Fernsehen am präsentesten: Marcel Salathé, hier in der SRF-Sendung «10vor10». (Bild: SRF)

Am Fernsehen am präsentesten: Marcel Salathé, hier in der SRF-Sendung «10vor10». (Bild: SRF)

Srf / Aargauer Zeitung

Beda Stadler: Der Schlagzeilen-Lieferant

Beda Stadler, 70 (Bild: Keystone)

Beda Stadler, 70 (Bild: Keystone)

Lukas Lehmann/Keystone

Wofür er steht: Der emeritierte Professor für Immunologie und ehemaliger Direktor des Instituts für Immunologie der Universität Bern provoziert gerne. Er fand von Anfang an das Veranstaltungsverbot von Outdoor-Events wenig sinnvoll, weil das Sonnenlicht die Viren töte. Zur Basler Fasnacht sagte er: «Wenn die Leute Waggislarven tragen, sind sie jedenfalls besser geschützt als mit den Masken, die man jetzt hamstert.» Später kritisierte er auch die Weisung des Bundesrates, zu Hause zu bleiben: Social Distancing hätte gereicht.

Stärke: Er erklärt das Virus so bildhaft, dass es jeder versteht. Unserer Zeitung lieferte er ein Zitat, das speziell die welschen und deutschen Zeitungen mit Vergnügen wiederholten: Dass es für den Tröpfchen-Ausstoss ungünstig sei, «dass wir im Schweizerdeutschen beim Sprechen viele Kehllaute benutzen». Beda Stadler, das bedeutet auch: kreative Vorschläge. Im März forderte er, Migros, Coop und Co. sollten die Läden von 8 bis 10 Uhr nur für Senioren öffnen, damit diese ohne Ansteckungsrisiko einkaufen gehen könnten.

Grösster Irrtum: Anfang Februar sagte Stadler noch, das Virus in China sei eine Hysterie, aber zu jener Zeit lagen auch viele andere falsch. Dass Stadler jedoch noch am 31. Mai an der Nikotin-Theorie festhielt, ist schon bedenklicher: «Sie mögen lachen, aber es ist mittlerweile eine sehr gut belegte Tatsache, dass Raucher unter den Coronakranken stark untervertreten sind.» Zu diesem Zeitpunkt hatten verschiedene Wissenschaftsmagazine diesen Befund bereits angezweifelt. (kus)

Marcel Salathé: Der TV-Star

Marcel Salathé, 45 (Bild: Keystone)

Marcel Salathé, 45 (Bild: Keystone)

Keystone

Wofür er steht: Der Professor der ETH Lausanne ist der prominenteste Corona-Erklärer des Landes. Kein anderer Epidemiologe hatte mehr TV-Auftritte beim SRF, keiner wurde öfter zitiert. Erstaunlich für einen, der von sich selbst sagt, mit Infektionskrankheiten habe er sich länger nicht mehr befasst. Sein Metier ist die digitale Epidemiologie. Eher zufällig stösst er Ende Februar auf Meldungen über das neue Virus aus China. Schnell erkennt er die Gefahr und wird zum Warner und Kritiker. Er gehört mit Christian Althaus zur Gruppe jüngerer Wissenschafter, die Druck auf den zögerlichen Bundesrat ausüben und dafür ihre Reichweite auf Twitter nutzen. Folgerichtig wird Salathé Ende März Mitglied der Covid-19-Taskforce, als Leiter «Digital Epidemiology».

Stärke: Der Basler ist ein eloquenter Interviewpartner, dabei stets ruhig und sachlich, die Provokation liegt ihm nicht. Seine wissenschaftliche Kompetenz liegt im digitalen Bereich. Bei der Entwicklung der nationalen Corona-App war er federführend, hat früh auf die richtige Technik gesetzt, auf Datenschutz und Transparenz gepocht. Das Resultat: Mit «SwissCovid» hat die Schweiz ab 25. Juni eine der ausgereiftesten Tracing-Apps der Welt zur Hand.

Grösster Irrtum: Obwohl Salathé der TV-Nation wochenlang erklärt hat, das dieses Virus «grosse Gefahr» bedeutet und was das BAG tun soll, «testen und tracen», ist kaum je Kritik an seiner Person laut geworden. Was man ihm vorhalten kann, ist, dass er die Pandemie als Beschleuniger für seine Karriere benutzt hat. Er hat nicht nur die Gefahr früh erkannt, sondern auch das Potenzial für seine Person und Themen. (kaf)

Marcel Tanner: Der Besonnene

Marcel Tanner, 67. (Bild: Juri Junkov)

Marcel Tanner, 67. (Bild: Juri Junkov)

Juri Junkov

Wofür er steht: Der emeritierte Professor für Epidemiologie an der Universität Basel amtet als Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz und ist Mitglied der Taskforce Covid-19 des Bundes. In der Coronakrise hat er sich schnell auch medial als besonnener, sehr realistischer Experte erwiesen.

Stärke: Unentwegt und unaufgeregt rief er zur Einhaltung der Hygiene- und Distanzmassnahmen auf, seine Auftritte wirkten kein bisschen akademisch oder überheblich. Falscheinschätzungen in der Hitze des Virus-Gefechts hielt er für möglich. Schon Anfang April erklärte er, dass es vor allem bei der älteren Bevölkerung und Vorerkrankten eine Übersterblichkeit geben werde, weil diese wegen ihres schlechteren Immunsystems gefährdet seien. Gezweifelt hat er am Laisser-faire der Schweden. Einen zweiten Lockdown schloss er schon Anfang Mai aus. Panik war nicht seine Sache.

Grösster Irrtum: Was die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Covid-19 betrifft, hat Tanner vor zu viel Optimismus gewarnt. Den Ankündigungen britischer Forscher, bereits im September oder gegen Ende einen Impfstoff in millionenfachen Dosen zur Verfügung zu haben, hielt er für «sehr ambitioniert», was wohl unmöglich bedeutet. In einem Interview in unserer Zeitung rechnete er erst Ende dieses Jahres überhaupt mit dem Ende der klinischen Tests. Und danach vergehen Monate, bis der Impfstoff an die Menschen weitergegeben werden kann. Da hofft man, dass sich Tanner für einmal irrt. (Kn.)

Pietro Vernazza: Kämpfer für Verhältnismässigkeit

Pietro Vernazza, 64. (Bild: Ralph Ribi)

Pietro Vernazza, 64. (Bild: Ralph Ribi)

Ralph Ribi

Wofür er steht: Der Chefarzt an der Klinik für Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen ist vorsichtig. Im Januar, nach den ersten 17 Coronatoten in China, will er die einschneidenden Massnahmen der Chinesen noch nicht kommentieren, die Faktenlage sei zu dünn. Der international anerkannte HIV-Spezialist hat in seiner langen Karriere schon viele Viren kommen und gehen sehen.

Stärke: Vernazza will zunächst vor allem vermeiden, dass medial zu viel Angst gemacht wird. Er sagte früh, viele Betroffene würden von ihrer Ansteckung nichts bemerken und unentdeckt bleiben – was sich als richtig herausstellen wird. Er empfiehlt Ende Januar richtiges Händewaschen und das Vermeiden von Kontakt mit angesteckten Personen, den Schutz durch Masken hält er für zweifelhaft. Zwischendurch ärgert er sich und verschafft sich auf seinem Blog auf infekt.ch Luft. Vor allem wenn es um Schulschliessungen geht, die er von vornherein ablehnt. Den Lockdown lehnt er nicht ab, er plädiert aber auch für Lockerungen. Er möchte Risikopersonen schützen, die anderen aber nicht zu stark in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken, setzt auf Selbstverantwortung und Verhältnismässigkeit. Je länger die Krise geht, desto mehr Schwenken auf Vernazzas Linie.

Grösster Irrtum: Vieles hält er für aufgebauscht, vor allem wenn es um ungeprüfte Studien oder einen Durchbruch eines neuen Medikaments geht. Schnell wittert er einen Medienhype. Damit liegt er wohl meist richtig, die Krise selbst ist aber keiner. (Kn.)

Christian Althaus: Der frühe Warner

Christian Althaus, 41. (Bild: ZVG)

Christian Althaus, 41. (Bild: ZVG)

CH Media

Wofür er steht: Der Epidemiologe der Universität Bern verfolgte die Ereignisse in Wuhan von Anfang an. Wahrscheinlich der erste Schweizer, dem schwante, dass sich da etwas Grösseres anbahnte. Versuchte erfolglos, das BAG zu sensibilisieren. Erste einschlägige Publikation zusammen mit seinem Post-Doc Julien Riou am 30. Januar. Die beiden berechneten anhand der verfügbaren Daten aus Wuhan die wahrscheinlichsten Szenarien, wie sich die Epidemie entwickeln könnte. Althaus war ein hartnäckiger Warner, der zusammen mit Marcel Salathé nicht locker liess, bis man auch beim Bund einsah, dass die Schweiz bei dieser Epidemie nicht Zuschauer bleiben würde.

Stärke: Guter Erklärer, der trotz seines mathematischen Hintergrundes Sachverhalte allgemein verständlich machen konnte. Oft präsent im Radio und TV, er wurde eine Art «Schweizer Drosten», der mit seinem wöchentlichen NZZ-Podcast der Stimme der Wissenschaft Gewicht gab.

Grösster Irrtum: Althaus ist auch «der mit den 30 000 Toten». In einem Interview mit der NZZ versuchte er zu erklären, dass auch eine Sterblichkeit von 1 Prozent zu einer immens grossen Opferzahl führen würde, wenn man nichts täte und sich – angenommen – 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung anstecken würden. Das war bei der Spanischen Grippe 1918-1920 der Fall gewesen. Der Interviewer rechnete: «Das wären dann aber drei Millionen Infizierte und 30 000 Tote?» Althaus wurde zitiert: «Ein solches Worst-Case-Szenario ist nicht auszuschliessen.» (chb)