Pflegerinnen, Bauarbeiter, Produktionsangestellte: Tausende Arbeitnehmer haben trotz Coronapandemie keine andere Wahl, als das Haus zu verlassen und zur Arbeit zu erscheinen. Auch wenn sie schwere Vorerkrankungen haben. Zwei Betroffene packen aus.
Zwei Meter, sagt Daniel Hullimann*, sind die Gänge auf Baustellen in der Regel nicht breit, da könne man sich auf den Kopf stellen, «der nötige Sicherheitsabstand ist hier schlicht eine Illusion». Er habe noch Glück gehabt, vergleichsweise, Handschuhe erhalten, Schutzmaske, Desinfektionsmittel. Doch mit seinen 64 Jahren und Vorerkrankungen, als Vorarbeiter, seit sechs Jahren im gleichen Betrieb tätig, ist Hullimann kein perfekter Kandidat fürs Homeoffice. Und so schickt ihn der Arbeitgeber auch nicht nach Hause, da kann er Angst haben, so viel er will.
In den ersten Tagen der Pandemie Anfang März hielt der Bund noch fest, dass gefährdete Personen unter Lohnfortzahlung beurlaubt werden können, falls sie ihre Arbeit nicht im Homeoffice erledigen können. Sofern ein ärztliches Attest vorliegt. Doch diese Regelung hat der Bundesrat am 20. März geändert: Gefährdete Personen können seither weiterhin zur Arbeit aufgeboten werden, sofern der Arbeitgeber die Schutzmassnahmen gewährleisten kann. Als solche gelten das Händewaschen und ein Sicherheitsabstand von zwei Metern zu anderen Menschen.
Doch was tun, wenn die Massnahmen nicht eingehalten werden? In diesen Tagen zeigt sich bei den Gewerkschaften ein ähnliches Bild: Dutzende verunsicherte Arbeitnehmende, vorwiegend in Pflegeberufen, auf dem Bau, in Produktionsbetrieben tätig, erkundigen sich nach ihren Rechten und ihren Möglichkeiten. Sie fühlen sich vom Arbeitgeber nicht ernst genommen, fürchten Lohnausfälle oder gar die Kündigung – wer die Stimme erhebt, dem wird an manchen Orten gesagt: Wenn es dir nicht passt, dann kannst du auch gehen. Besonders ältere Angestellte arbeiten deshalb weiter. Weil die Angst vor dem Verlust der Arbeitsstelle grösser wiegt als diejenige um die eigene Gesundheit. Und diejenige ihrer Mitmenschen.
Hullimann wohnt mit seiner 86-jährigen Mutter zusammen, sie ist seit Jahren auf Sauerstoff angewiesen, jede Nacht stellt er das Babyphon zu ihr ins Schlafzimmer und schaut, dass ihr die Luft nicht ausgeht, und nun sagt er: Das Schlimmste an meiner Situation ist nicht, dass ich sterben könnte, sondern, dass ich mit der Angst lebe, meine Mutter auf dem Gewissen zu haben.
Er hat 17 Tage Quarantäne hinter sich, weil er hustete, noch hat sich der Arbeitgeber nicht entschieden, ob diese Tage als Krankmeldung gelten oder er Ferien beziehen muss, seit Anfang Woche steht er wieder auf der Baustelle. «Weil ich den Lohn brauche.»
Dieses Szenario hat auch Manuel Infanger*, 62, ständig im Kopf. Er hat seinem Arbeitgeber ein ärztliches Attest vorgelegt, das seine Vorerkrankungen bestätigt, Lungenprobleme, Asthma. Er arbeitet ausgerechnet bei einer Firma, die auch Aufträge für das Bundesamt für Gesundheit durchführt. Doch das Unternehmen bescheinigt ihm schriftlich, dass es die nötigen Massnahmen zum Schutz der Mitarbeitenden einhält, dass er in einer Woche wieder auf der Matte stehen muss und keine zweite Krankschreibung akzeptiert würde. Das Unternehmen hat ihm mit der Kündigung gedroht, sollte er der Arbeit fernbleiben.
Auch bei ihm dreht sich Vieles um Verantwortung und eine Schuld im Kopf. «Ich lebe mit meiner Lebenspartnerin zusammen, die chronisch krank ist. Passiert ihr etwas, trifft mich vielleicht eine Mitschuld», sagt er. Beide Männer wollen anonym bleiben, andere Namen in der Zeitung lesen. Weil sie um den Verlust ihrer Arbeitsstelle fürchten. «Ich denke, die wollen mich loswerden», sagt Infanger. «Weil ich ein Mensch bin, der sich nicht alles gefallen lässt, und das ist nicht erwünscht.»
Dabei hält das Staatssekretariat für Wirtschaft auf seiner Webseite fest: Der Anspruch auf Kurzarbeit ist auch auf Personen ausgeweitet, die als besonders gefährdet gelten. Doch viele Arbeitgeber würden in gewissen Branchen eben nicht gerne auf die Arbeitenden verzichten, sagt Luca Cirigliano, Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds SGB. Und: Sie würden die Risikoabklärung, die es im Falle von gefährdeten Arbeitnehmenden bräuchte, nicht genug gewissenhaft durchführen.
Er sagt: «Der Bundesrat sagt selbst, für Risikogruppen müsste im Betrieb die gleiche Sicherheit gewährleistet sein wie zuhause. Aber wie wollen Sie das erreichen? Es werden oberflächlich und unverantwortlich Gesundheitsmassnahmen definiert. Und das ist am Ende nichts anderes als die Gefährdung von Leben.» Jeder, der unbequem ist, sei derzeit prädestiniert für die Kündigung, weil die Schweiz keinen effektiven Kündigungsschutz kenne. «Der Bundesrat soll so schnell wie möglich etwas unternehmen. Die Leute haben zum Teil Todesangst.»
Gewerkschaften schreiben, viele Arbeitnehmende seien derart eingeschüchtert, dass sie sich weigerten, die Gewerkschaft einzuschalten. Auch, weil jetzt mitunter die Angst steigt, nach der Coronakrise, bedingt durch eine neue Rezession, erst recht keine neue Stelle mehr zu finden. Der Druck der Arbeitgeber, die gesamte Bevölkerung wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, habe spürbar zugenommen. Die Verbände fordern vom Bundesrat deshalb das Recht auf Freistellung für gefährdete Personen bei gleichbleibendem Gehalt sowie ein Entlassungsverbot während der Dauer der Freistellung und auch für eine gewisse Zeit danach.
Daniel Hullimann weiss derweil noch immer nicht, ob er wieder zur Arbeit soll oder nicht. Für ihn heisst es vorerst: Angst abwägen.
*Namen der Redaktion bekannt.