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Der Gewerbeverband-Direktor Hans-Ulrich Bigler plädiert für den Plan B – trotz Risiko des Scheiterns.
Hans-Ulrich Bigler: Die Lohnbeiträge werden ab 2021 um 0,3 Prozent erhöht. Die Mehrwertsteuer steigt zunächst um 0,3 Prozent und muss später nochmals um 0,3 Prozent erhöht werden. So steht es im Bundesbüchlein. Wir haben in keiner Art und Weise Zahlen erfunden.
Ja. Aber langfristig müssen wir weiter sanieren – auch wenn das in der aktuellen Reform nicht festgehalten ist. Wir müssen nur den Befürwortern zuhören: Gewerkschafter Corrado Pardini erklärte, die Koordinaten des Kompasses seien mit der Reform gestellt. Wir werden in naher Zukunft also die Mehrwertsteuern und die Lohnprozente nochmals anheben müssen. Die Frage ist nur, um wie viel. Der Bundesrat wollte ursprünglich sogar zwei ganze zusätzliche Mehrwertsteuerprozente, was deutlich über unseren Prognosen liegt.
Dass die jetzige Vorlage die AHV nicht saniert, sondern deren Probleme verschärft, ist keine Provokation, sondern eine Tatsache. Darauf gehen wir ein. Es macht hier keinen Sinn, dass wir alte Kampagnen wieder aufkochen.
Wir waren bemüht, einen Kompromiss zu finden. Doch im Ständerat hat eine Mitte-Links-Gruppe alle Vorschläge blockiert, um den AHV-Ausbau durchzupauken. Dieselben, die jetzt die Vorlage als Kompromiss zu verkaufen suchen. Zudem haben wir mit dem Bauernverband einen neuen Vorschlag ausgearbeitet, weil eben der Wegfall des Koordinationsabzugs die Tieflohnbranche so stark tangieren würde. Auch der wurde blockiert. Es wäre sehr wichtig gewesen, die 70 Franken aus der Reform zu kippen.
Ja. Weil ohne Koordinationsabzug tiefe Löhne stärker belastet werden. Um die Senkung des Umwandlungssatzes zu kompensieren, müsste ein Kompromiss über höhere Altersgutschriften gesucht werden. Der Umwandlungssatz soll von 6,8 Prozent auf 6 Prozent sinken.
Nein. Aber wir wollen die Ausfälle in der zweiten Säule kompensieren und nicht die erste und zweite Säule vermischen, wie es die Reform mit dem 70-Franken-Zuschlag vorsieht. Das bewährte Drei-Säulen-Modell wird so gefährdet. Vor allem, wenn für zukünftige Revisionen das die Lösung sein soll. Und die nächste Revision kommt, das sagen auch die Befürworter. Das zeigt mir: Die wichtigste Aufgabe ist mit dieser Reform nicht erfüllt. Wir sanieren die angeschlagene Finanzlage nicht, wir bauen sie sogar noch aus.
Es ist unbestritten, wir brauchen Reformen. Nur ist die aktuelle Vorlage überladen, kompliziert und kostet mehr, als dass sie verbessert. Wir plädieren für ein Vorgehen in kleinen Schritten. Zuerst die AHV sanieren, da ist der Handlungsbedarf grösser. Als Zweites wollen wir die Pensionskassen entlasten. Dass die schnelle Umsetzung eines Plans B möglich ist, zeigt die Unternehmenssteuerreform III. Nach dem Nein hat sich das Parlament sehr schnell auf ein neues Vorgehen geeinigt.
Das ist immer ein Risiko in der Politik.
Das ist so, ja.
In einzelnen Fragen gibt es immer Differenzen, das ist normal. Die Frage des Koordinationsabzugs ist aber nicht das Kernstück der Vorlage.
... Nein. Kompensieren wollen wir in der 2. Säule, wo die Einbussen anfallen.
Für uns steht Folgendes im Vordergrund: Kurzfristig die AHV mit unserem Plan B sanieren, langfristig das Rentenalter an die Lebenserwartung knüpfen. Im Ständerat ist dazu ein Vorstoss hängig. Zudem müssen wir die Mehrwertsteuer im tiefen Prozentbereich anpassen. Zweitens den Umwandlungssatz im obligatorischen Bereich auf 6 Prozent senken. Das betrifft weniger als zwanzig Prozent der Versicherten. Alle anderen müssen sich heute schon mit einem tieferen Umwandlungssatz abfinden. Wir müssen über Kompensation via Altersgutschriften diskutieren, um die Senkung abzufedern. Der Plan B fokussiert also nicht auf die Abschaffung des Koordinationsabzugs, sondern will die Altersgutschriften erhöhen.
Das ist Kaffeesatzlesen! Wir haben eine Differenz. Für uns ist das nicht das zentrale Element in der Sanierung des BVG.
Doch. Wir haben immer gesagt, wir wollen das Rentenniveau sichern. Die Sozialversicherungen sind eine wichtige Errungenschaft. Es ist uns genau darum auch daran gelegen, dass wir sanieren und keine Scheinreformen machen. Wir müssen nun untersuchen, wie wir mit den Altersgutschriften die Ausfälle kompensieren können.
Klar ist aber auch, dass die Lebenserwartung steigt. Die Finanzierung muss deshalb insgesamt gestärkt werden. Ums Sparen kommen wir nicht herum. Genau da macht die jetzige Vorlage den Leuten etwas vor. Wir müssen ehrlich sein: Wenn wir das Rentenniveau garantieren wollen, die Menschen aber gleichzeitig länger leben, dann müssen wir mehr sparen. Vergessen geht zudem oft: Es geht auch um die dritte Säule. Wenn ein junger Mann, eine junge Frau mit 20 zu sparen beginnt, 100 Franken pro Monat auf die Seite legt, dann ergibt das zur Zeit der Pensionierung ganz erkleckliche Summen.
Obligatorium
Die berufliche Vorsorge (BVG) ergänzt die AHV für die Altersvorsorge. Ab 25 Jahren und einem Lohn à 21 150 Franken pro Jahr ist sie für alle Arbeitnehmer obligatorisch. Zum «Obligatorium» zählen Einkommen bis 84 600 Franken pro Jahr. Für sie gelten bestimmte Regeln. Die BVG-Anpassungen der Altersreform 2020 betreffen nur diese Löhne.
Eintrittsschwelle
Alle Arbeitnehmer können sich eine berufliche Vorsorge aufbauen, sofern sie mindestens 21 150 Franken verdienen. Dieser Betrag stellt die Eintrittsschwelle in das Obligatorium dar. Wer einen Lohn unter dieser Schwelle hat, kann nur im Ausnahmefall eine BVG-Rente ansparen – abhängig von Pensionskasse, Arbeitgeber oder Gesamtarbeitsverträgen.
Koordinationsabzug
Über diesen Abzug wird der Anteil des Lohnes ermittelt, der obligatorisch versichert ist. Der Abzug beträgt heute 24 675 Franken pro Jahr. Bei einem Einkommen von 50 000 Franken sind also 25 325 Franken in der zweiten Säule versichert. Das bedeutet: Je tiefer der Lohn, desto schlechter ist er versichert, desto kleiner ist die Pensionskassenrente.
Altersgutschriften
Über Altersgutschriften spart sich jeder Arbeitnehmer sein Altersguthaben in der Pensionskasse an. Je nach Alter unterscheiden sich diese: 25- bis 34-Jährige geben 7% ihres Lohnes ab, 35- bis 44-Jährige 10%, 45- bis 54-Jährige 15%, 55- bis 64-Jährige 18%. Die Altersgutschriften sind mindestens zur Hälfte vom Arbeitgeber finanziert.
Umwandlungssatz
Bei der Pensionierung kann sich der Versicherte das Alterskapital in Form einer Rente ausbezahlen lassen. Der Umwandlungssatz bestimmt die Rentenhöhe. 6,8 Prozent sind es im Obligatorium. Bei einem Altersguthaben von 100 000 Franken sind das 6800 Franken pro Jahr. Im Überobligatorium kann die Pensionskasse den Umwandlungssatz festlegen.
Ja. Es braucht eine Anpassung der Mehrwertsteuer. Hier sind wir kompromissbereit. Das Ungerechte an der jetzigen Reform ist, dass die heutigen Rentner Geschenke auch an reiche Neurentner mitfinanzieren müssen. Selber erhalten sie aber keinen Rappen mehr. Es entsteht eine Zwei-Klassen-AHV, weil alle Neurentner 70 Franken mehr AHV erhalten. Zudem wird der Volkswille missachtet. Bereits bei der AHVplus-Initiative stimmte das Volk gegen einen Ausbau der AHV. Damals ging es um 200, heute geht es um 70 Franken.
Wir kritisieren, dass die erste und zweite Säule vermischt werden. Die Linke will die AHV und damit die Umverteilung zwischen reich und arm stärken. Dabei geht vergessen, dass die 70 Franken just die Ärmsten, die Bezüger von Ergänzungsleistungen (EL), benachteiligt. Die Schwächsten der Gesellschaft verlieren am meisten, weil die EL um 70 Franken gekürzt werden, die Bezüger aber mehr versteuern müssen.
Ich will mich nicht auf eine Zahl festlegen. Das hängt davon ab, wie viel Geld wir ergänzend zur Erhöhung des Rentenalters für die Finanzierung brauchen.
Nein. Aber es hängt davon ab, wie viel Geld wir brauchen.
Damit das klar gesagt ist: Der schnellste Weg zu einer Erhöhung des Rentenalters führt über ein Ja zu dieser Scheinreform. Wenn wir jetzt anstatt zu sanieren die AHV ausbauen, werden wir schon viel früher nicht mehr darum herumkommen, als wenn wir jetzt eine echte Reform beschliessen. Auch müssen wir die Diskussion ehrlich führen: Wie können wir den zusätzlichen Rentenbedarf decken, wenn wir länger leben? Und das hängt mit der Lebenserwartung und der Lebensarbeitszeit zusammen. Im Übrigen: Wir haben in der Schweiz ein System, das separate Lösungen ermöglicht, wie etwa für die Bauwirtschaft, die heute bereits den vorzeitigen Altersrücktritt kennt und diesen auch finanziert. Solche Lösungen, die auf Sozialpartnerschaft basieren, müssen möglich bleiben.
Ja. Denn es geht hier um die Frage: Wer nimmt welche Kompetenzen wahr? Solche Lösungen müssen nicht staatlich gefördert werden, sondern von den Sozialpartnern gefunden werden.
Das müssen Sie die Befürworter fragen. Die argumentieren so. Persönlich bevorzuge ich es, wenn mit offenen Karten gespielt wird. Wenn beispielsweise der Bundesrat behauptet, es gebe eine Besitzstandsgarantie für alle, dann stimmt das nicht. Diese gilt nur für Versicherte im obligatorischen Bereich.