Fall Insieme
Protokolle aus dem Bundesrat auch für Historiker interessant

Politiker fordern vom Bundesrat bessere Protokolle, damit Fälle wie das IT-Debakel Insieme künftig verhindert oder zumindest besser aufgerollt werden können. An der bundesrätlichen Protokollführung sind aber auch Geschichtsschreiber interessiert.

lina giusto und stefan schmid
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Gesagt ist gesagt: Oder doch nicht? Bundeskanzlerin Corina Casanova, Bundespräsident Didier Burkhalter. keystone

Gesagt ist gesagt: Oder doch nicht? Bundeskanzlerin Corina Casanova, Bundespräsident Didier Burkhalter. keystone

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Wer Mitglied eines Vereins ist, kennt die Situation aus eigener Erfahrung: Vom Grusswort des Präsidenten bis hin zu den Varia wird anlässlich von Hauptversammlungen oder Vorstandssitzungen minuziös Protokoll geführt. Für die Mitglieder und die Nachwelt sind die wichtigsten Beschlüsse meist transparent aufgelistet.

Für den Bundesrat, das oberste Leitungsorgan der Eidgenossenschaft, gelten offenbar andere Regeln. Im Zusammenhang mit dem IT-Debakel Insieme, bei welchem 116 Millionen Franken in den Sand gesetzt wurden, kritisieren Parlamentarier nicht zum ersten Mal in scharfen Worten die «lückenhafte» Protokollierung wichtiger Diskussionen. So habe die zuständige Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf mündlich beteuert, sie habe den Gesamtbundesrat mehrfach über die Missstände informiert. In den Protokollen ist dazu aber nichts zu finden. «Das muss sich ändern», sagt Rudolf Joder, Präsident der Geschäftsprüfungskommission (GPK).

Der Berner SVP-Politiker will das Gesetz verschärfen: «Nicht nur Beschlüsse, sondern alle Diskussionspunkte müssen protokolliert werden.» Die Idee stösst im Parlament auf Sympathien: «Ein Protokoll zu schreiben, ist nicht kompliziert. Jeder Verein weiss, wie man das macht», sagt etwa GPK-Mitglied Ueli Leuenberger (Grüne, GE).

Die Wende von 1969

An einem guten Protokoll sind indes nicht nur Parlamentarier interessiert, welche die Regierung von Amtes wegen überwachen müssen. Auch Historiker weisen auf die Bedeutung einer umfassenden Überlieferung hin. «Für die Forschung sind Protokolle zentral», sagt Sacha Zala, Präsident der Gesellschaft für Geschichte. Dank diesen Protokollen könnten weitere zentrale Quellen ermittelt werden. Was im Bundesrat diskutiert werde, sei wichtig und deshalb auch für Historiker relevant.

Zala, der als Direktor der Diplomatischen Dokumente der Schweiz (Dodis) täglich mit wichtigen Dokumenten aus der Bundesverwaltung zu tun hat, sagt aber auch: «Es ist nicht so, dass der Bundesrat schlecht protokolliert. Wir Historiker stellen aber einen klaren Unterschied zwischen der Zeit vor 1969 und nachher fest.» Vorher habe es nur ein einziges Protokoll über die Sitzungen des Bundesrats gegeben. Nachher seien 8 bis 9 Kopien angefertigt worden. «Die Dichte der Informationen hat seither spürbar abgenommen – wohl aus Angst, man könnte die Entscheidfindung zu politischen Zwecken missbrauchen», sagt Zala. Für Historiker gilt generell eine Sperrfrist von 30 Jahren. Die heutigen Bundesratsprotokolle können somit erst ab 2044 für Forschungszwecke ausgewertet werden.

Simonazzi verteidigt Protokolle

Auch alt Bundesrat Arnold Koller (81) anerkennt die Bedeutung der Bundesratsprotokolle für die Geschichtswissenschaft. Gleichzeitig aber weist der ehemalige Justizminister auf Vollzugsprobleme hin, sollten die Anforderungen verschärft werden: «Der Bundesrat hat Wichtigeres zu tun, als über Formulierungen zu diskutieren.»

Vizekanzler André Simonazzi, während der Bundesratssitzung zuständig für die Protokollierung, verteidigt die heutige Praxis: Der Bundesrat habe die Empfehlungen der GPK im Fall Hildebrand umgesetzt. Seither würden ausführliche Protokolle verfasst. Dazu gehörten sämtliche Beschlüsse und die Zusammenfassung der Diskussionen. «Auch wichtige Informationen aus den Departementen werden protokolliert», sagt Simonazzi. Grundlage für die Protokollierung ist das Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz. Es enthält seit 1. Januar dieses Jahres einen präzis formulierten Artikel, wie die Verhandlungen des Bundesrats festgehalten werden sollen.

Zur konkreten Kritik im Fall Insieme nimmt der Bundesrat im Verlaufe der nächsten Wochen Stellung.