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Schweiz
Sie ist seit 34 Jahren im benediktinischen Kloster Fahr im Limmattal. Während der Krise haben sich Kontakte mit der Aussenwelt beschränkt, und diese vermisst Priorin Irene.
Im Jahr 529 schrieb ein Mönch namens Benedikt von Nursia folgende Regel auf: «Dem Kloster fehlt es nie an Gästen». 1500 Jahre später ist es im benediktinischen Kloster Fahr im Limmattal schwierig, diesem Gebot nachzukommen; die Gästezimmer sind leer, das Restaurant kaum besucht, die Weinkeller überfüllt. Dabei war das Kloster stets, trotz der geistlichen Ruhe seiner Gemächer, ein Ort des Lebens, wo diese nicht verschwindet, sondern eine Auszeit erlaubt von der Welt, das rundherum rauscht. Keine drei Kilometer entfernt zischen am Bahnhof Schlieren Züge vorbei, Busse husten, Autos hupen. Trotz des Coronavirus entkommt man dort nicht dem Wimmeln, der steten Aufregung, des Sprudelns, so wie die Limmat an diesem grauen Herbsttag unverrückbar dahinfliesst. Unweit ihrer Ufer strömen Autos auf der A1.
Aber spaziert man von der Weningerstrasse ein paar hundert Meter flussabwärts, verstummt die Vorstadt allmählich. Haubentaucher und Stockenten schnattern, Schafe blöken, Rotkelchen singen, der Bach Werd flüstert, je mehr man sich dem Kloster nähert. Nach dem Betreten der Pforten ist man behütet in der Stille der dicken Wände in Kalk getüncht." Am Rand der Stadt, Welt, in der sich Erd und Himmel stets begegnen», schrieb die bekannte Benediktinerin Silja Walter über das Kloster Fahr, in der sie lebte und 2011 starb.
Wir begegnen hier Priorin Irene, die seit 17 Jahren die Gemeinschaft der zwanzig benediktinischen Schwestern leitet und selbst seit 34 Jahren hier lebt. Sie führt uns durch die Steingänge, die Schritte hallen nach, vorbei an Christus am Kreuz und einem leeren Weihwasserkessel an der Wand.
Man kann ihr Alter anhand der biografischen Angaben abschätzen, aber auf ihrem von der Haube umrahmten Gesicht liest sich eine alterslose Vitalität und Gewissheit. Ihre Hände bewegen sich in ruhigen Gesten, wenn sie über das vergangene Jahr, der Pandemie und der Spiritualität sinniert. Wir trinken Mineralwasser im karg eingerichteten Wohnzimmer des Abtes. Die Wände sind geschmückt von Holzmalereien aus dem 18. Jahrhundert, ein altehrwürdiger Kachelofen nimmt eine Ecke des Zimmers ein.
Das Kloster musste während der ersten Welle in Quarantäne. Fünf Schwestern erkrankten. Alle erlebten glücklicherweise einen milden Verlauf. «Es war anspruchsvoll, aber wir hielten gut zusammen», erklärt Priorin Irene. Die Gemeinschaft schied sich noch weiter von der Welt ab: Keine öffentlichen Gottesdienste mehr, keine Kontakte mit weltlichen Mitarbeitenden, das Restaurant ausserhalb der Klosterwände blieb zu.
Nun ist es wieder offen, aber es kommen kaum Gäste. In solchen Zeiten geben die Regel St. Benedikts Halt: «Akzeptiere das, was du nicht ändern kannst» oder «dein Herz sei stark und halte den Herrn aus» sind Botschaften, die der antike Geistlicher überlieferte. Mit seiner klaren Tagesstruktur und der Abwechslung von Arbeit, Gebet und Lesung verankern sich die Schwestern in Geborgenheit. «Ich bin stets in schwierigen Zeiten geistlich gewachsen. Dann erscheinen mir die biblischen Texte am konkretesten», sagt die Priorin und liest mit sanfter Stimme aus dem Psalm 27: «Der Herr ist mein Licht und mein Heil. Vor wem soll ich mich fürchten?»
Das Kloster stand schon im 14. Jahrhundert, als die Pest ein Drittel der europäischen Bevölkerung tötete. Damals fürchteten sich die Menschen vor Gott und die Kirche betrachtete die Seuche als Gottesbestrafung; das sieht die Priorin heute anders: «In den Evangelien heilt Jesus immer wieder kranke Menschen. Er ist gekommen, um Heil zu bringen.». Das hiesse nicht, dass Menschen vor Unruhen und Leid befreit seien: «Ich werde nicht verschont, wenn ich gläubig genug bin. Die Botschaft Gottes ist: Richtet euch auf, Gott gibt die Kraft. Er begleitet uns.»
So schöpfte sie aus der Bibel und dem Zusammenhalt ihrer Mitschwestern Zuversicht. Sie merkte auch, wie eine aussergewöhnliche Verbindung zu der Aussenwelt bestand. «Wir waren physisch getrennt, aber geistlich entstand eine Bindung, die es sonst nicht gibt.» Trotzdem fehlt ihr die Anwesenheit der Menschen: «Es ist eine unserer Aufgabe, Gäste zu empfangen, ihnen durch das Vorleben unseres Glaubens etwas mitzugeben und von ihnen Inspiration zu schöpfen.»
Dass sich Menschen nach Spiritualität sehnen, merkte sie schon vor der Krise. «Jede Woche erreichen uns Anfragen von Maturandinnen oder LAP-Absolventinnen, die ihre Abschlussarbeit über das Kloster schreiben wollen.» Draussen suche man nach etwas, was viele in der Kirche leider nicht mehr finden könnten und im hektischen Alltag fehlt.
Umso mehr hofft Priorin Irène deshalb, dass dieser Advent sinnbildlich für die Pandemiezeit verstanden werden möge: «Die Adventszeit ist in Wirklichkeit keine leuchtende Zeit, wie wir sie aus den Einkaufsstrassen kennen. Die Bibel ist voller Überlieferungen vom ‘Volk, das im Dunkeln lebt, und ein helles Licht sieht.’» Das sei die grosse Botschaft der Adventszeit, das sie uns auf dem Weg mitgeben will. Je mehr sie spricht, umso mehr erwärmt sich der Raum: «Die Nacht ist vorgedrungen, es geht auf Mitternacht zu. Und wenn die Nacht am dunkelsten ist: Dann ist Weihnachten. Dann kam Gott in die Welt. Wenn es gelingt, bewusst die Dunkelheit auszuhalten und ein Licht zu sehen, dann kann Hoffnung strahlen.» Diese Gewissheit besteht beim Rückweg der Limmat entlang. Es droht zu verstummen im Getöse des Verkehrs an der Weningerstrasse. Da hilft es, wenn eines von Priorin Irène ausgelesenes Jesuszitat im Kopf nachhallt: «Wenn ihr von Krieg und Unruhen hört, lasst euch nicht erschrecken. Denn das muss als erstes geschehen.» Und weiter: «Es werden Zeichen sichtbar werden an Sonne, Mond und Sternen, und auf der Erde werden die Völker bestürzt und ratlos sein über das Toben und Donnern des Meeres. Die Menschen werden vor Angst vergehen in die Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen. Wenn dies beginnt, dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter.»
Dieser Artikel ist der erste Teil einer vierteiligen Serie über Geistliche, die über Spiritualität in der Krise sinnieren und von ihren Erfahrungen in diesem belebten Jahr zurückblicken.
Teil 2: Imam Muris Begovic