FDP-Präsident Philipp Müller schildert erstmals seinen schweren Unfall, an den er «Null Erinnerung» hat. Er räumt Fehler ein und will sich am Dienstag medizinischen Tests unterziehen.
Philipp Müller: Es kommt mir vor, als lebte ich seit Donnerstagabend in einer dichten Nebelwolke. Erst allmählich lüftet sich der Schleier und wird mir die Dimension dieses Unfalls bewusst. Was die junge Frau wegen mir erleiden muss, erfüllt mich mit Schmerz und belastet mich ungemein. Ich fahre seit mehr als 40 Jahren Auto, früher auch Rennen – ich kann mir nicht erklären, wie das passieren konnte.
Noch in der anschliessenden Nacht versuchte ich, die Fahrt zu rekonstruieren, also von meinem Haus in Reinach bis zur Unfallstelle in Lenzburg. Bis zum Kreisel in Hallwil weiss ich noch alles im Detail. Dort musste ich vor dem Lichtsignal warten, als ein Zug passierte. Ab dann erinnere ich mich nicht mehr. Ein Loch! Null Erinnerung! Das ist unheimlich, aber, so hat mir der Amtsarzt gesagt, nicht untypisch, wenn man nach einem schlimmen Unfall unter Schock steht. Natürlich muss ich auf der Fahrt bis zum Unfall noch bei vollem Bewusstsein gewesen sein.
Zeugen sagen, ich sei vor dem Unfall plötzlich auf die Gegenfahrbahn gefahren und die junge Frau habe keine Chance gehabt, auszuweichen. Das spricht gegen das Einschlafen. Zudem war ich ausgeschlafen, ich ging am Mittwoch um 22.30 Uhr zu Bett und bin am Donnerstag um 7.30 Uhr aufgewacht.
Ich verstehe die Leute, die das nicht nachvollziehen können – aber ich weiss es schlicht nicht. Die Vermutungen von Fachleuten gehen in Richtung Sekundenschlaf, also ein kurzes Blackout. Ich werde mich deswegen morgen Dienstag umfangreichen medizinischen Tests unterziehen, für die ich mich bereits am Freitagmorgen angemeldet habe. Wir alle hoffen, dass der Unfallablauf rasch geklärt wird.
Die Chronologie der Ereignisse:
- Donnerstag, 17.15 Uhr: Philipp Müller verursacht in Lenzburg einen Unfall. Sein Mercedes gerät auf die Gegenfahrbahn. Eine 17-jährige Rollerfahrerin erleidet dabei schwere Beinverletzungen.
- Freitag, 11 Uhr: Müller gibt SRF ein Interview zum Wahlkampf. Dabei verschweigt er den Unfall des Vortags.
- Freitagmittag: Der Unfall von Philipp Müller wird publik.
- Freitagnachmittag: Die FDP Schweiz verschickt eine dürre Mitteilung. Die Botschaft des FDP-Sprechers: Philipp Müller gehe es gut.
- Freitagabend: Philipp Müller verschickt eine persönliche Stellungnahme und betont, er sei am Steuer weder alkoholisiert gewesen noch habe er das Handy bedient.
- Samstagmorgen: Der Vater des Unfallopfers kritisiert Müller, er habe nicht geholfen am Unfallort und sich nicht persönlich gemeldet bei seiner Familie.
- Samstagnachmittag: Müller erklärt sich erneut in einer schriftlichen Mitteilung und kündigt an, er setze seinen Ständerats-Wahlkampf vorerst aus. (cav)
Abgesehen von Grippe oder Entzündungen, nein. Meine letzten Beschwerden waren 2013 und betrafen den Rücken.
Den Unfall selber nahm ich als weit entfernten Knall wahr. Mein erster Gedanke war: Jetzt ist mir ein Pneu geplatzt. Ich habe nicht einmal realisiert, dass mein Fahrzeug beschädigt ist. Bei der ersten Ausfahrstelle, nach rund 200 Metern, fuhr ich rechts raus, stieg aus dem Auto und sah den Schaden. Erst da realisierte ich, dass ein Unfall passiert sein musste. Ich lief zurück, sah eine verletzte Frau und viele Menschen, die sich um sie kümmerten. Man sagte mir, die Ambulanz sei unterwegs, ich habe dann trotzdem aus einem Reflex heraus den Polizeinotruf gewählt.
Weil ich nicht wusste, dass er der Vater ist. Ein Polizist hat mich gebeten, ins Polizeiauto zu sitzen. Dort war ich eine Stunde oder gar länger, bis man mich auf
den Posten in Schafisheim führte. Rundherum gab es einen riesigen Auflauf.
Zwischen dem Vater und mir ist es zu einem grossen Missverständnis gekommen. Er hat mich ja auf der Unfallstelle gesehen, konnte aber nicht wissen, dass ich der Unfallverursacher war, weil die Polizei ihm fälschlicherweise sagte, dieser sei bereits auf dem Posten. Ich habe noch am Donnerstagabend meinen Anwalt beauftragt, herauszufinden, wer das Opfer ist, um Kontakt aufzunehmen. Der Anwalt erklärte mir, dass die Opfer und deren Angehörige sehr oft keinen direkten Kontakt mit dem Verursacher wollen und er sich deshalb so rasch wie möglich bei den Eltern meldet und fragt, ob ich mich direkt bei ihnen melden dürfe. Tatsächlich wollten sie bis am Freitagabend noch keinen direkten Kontakt zu mir. Dies sagte der Vater der jungen Frau noch am späten Freitagabend. Er war verständlicherweise verärgert, dass ich nicht schon am Unfallort auf ihn zuging, weil er dachte, dass wir uns kennen. Wir haben uns tatsächlich vor Jahren an einem Anlass kennen gelernt. Doch das wusste ich nicht mehr, ich habe unzählige Anlässe pro Jahr. Am Samstag haben wir nun lange telefoniert und alle Missverständnisse ausräumen können.
Sicher nicht. Das wäre doch völlig naiv und entspricht auch nicht meiner Art. Ich bin ja selber zur Unfallstelle gelaufen. Auf der Unfallstelle haben mich unzählige Leute erkannt. Mir war von Anfang an klar, dass mein Name bekannt werden würde.
Weil das alles nicht so schnell geht. Wir haben sofort am Freitagmorgen die Organisation einer Telefonkonferenz mit der engeren Parteileitung an die Hand genommen. Um 13 Uhr kam sie zustande, um 14 Uhr war das Communiqué draussen.
Dass es mir gut gehe, stand nicht im Communiqué. Zudem war es lediglich eine Information der Partei. Deshalb habe ich am Nachmittag eine persönliche Erklärung verschickt, um klar zu machen, dass für mich das Unfallopfer vor allem anderen stehe. Das ist das Wichtigste. Vielleicht wirke ich manchmal etwas hart. Aber das bin ich nicht. Sie können mir glauben: Mir geht das Ganze unglaublich nahe. Der Unfalltag ist der schlimmste Tag in meinem Leben. Auch ich mache manchmal Fehler.
Das war ein Fehler. Ich stand unter Schock, dachte gar nicht mehr an den Termin. Plötzlich stand der Journalist vor der Haustür. Das war 18 Stunden nach dem Unfall, nach einer Nacht ohne Schlaf. Ich habe im Outlook nachgeschaut – und tatsächlich: Wie hatten vor langer Zeit abgemacht für einen Beitrag in einer Wahlserie. Ich habe seine Fragen dann wie ein Roboter beantwortet ...
Nochmals: Ich hätte den Journalisten abweisen müssen, keine Frage. Ich wurde gefragt, wie ich gerne einen strengen Tag abschliesse, und da hab ich diesen Satz gesagt. Das bezieht sich doch nicht auf die Zeit nach dem Unfall, ich war ja bis um Mitternacht auf dem Posten und wurde befragt. Jetzt wird mir ein Strick daraus gedreht. Glauben Sie mir: Ich denke im Moment an nichts anderes als an diesen Unfall und das Opfer. Auch wenn ich in der Nacht erwache, frage ich mich: Wie konnte das passieren?
Ich mache meine Arbeit im Parlament, trete aber nirgends vor Publikum auf. Ich kann doch nicht auf einem Podium die grosse Kelle schwingen und meine politischen Gegner angreifen, wie das in einem Wahlkampf üblich ist. Das geht nicht. Wie käme das beim Unfallopfer und bei den Angehörigen an? Ich habe der Partei gesagt: Ich sage bis zu den Wahlen alle Termine ab. Die Kantonalpartei und die engere Parteileitung unterstützen dieses Vorgehen. Einzig der Parteipräsidenten-Auftritt in der «Arena» von Anfang Oktober ist noch offen, da entscheiden wir kurzfristig. Ansonsten ziehe ich mich jetzt aus der Öffentlichkeit zurück.
Ich habe jetzt andere Prioritäten. Ich muss begreifen, was passiert ist, und damit umgehen. Ändern kann ich es leider nicht mehr.
Wie sich das auswirkt, wird sich wohl nie messen lassen.