Coronapolitik
Die Geschichte eines Rohrkrepierers: So kam es zum Brief der Parteipräsidenten

Die Parteipräsidenten forderten in einem öffentlichen Brief an den Bundesrat verschärfte Massnahmen an den Grenzen. Es war eine ziemlich einmalige Aktion. So schnell wird sie sich nicht wiederholen.

Lucien Fluri
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Viel Aufmerksamkeit, wenig Wirkung: Nachdem die «Sonntagszeitung» über den offenen Brief der Parteipräsidenten berichtet hatte, ernteten diese Kritik und Häme.

Viel Aufmerksamkeit, wenig Wirkung: Nachdem die «Sonntagszeitung» über den offenen Brief der Parteipräsidenten berichtet hatte, ernteten diese Kritik und Häme.

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Er dachte nichts Böses, im Gegenteil. Sorgen trieben Jürg Grossen, den Präsidenten der Grünliberalen, an. Ihn beschäftigt die Krise. Ihm gefällt nicht, dass die Politik meist nur reagiert, statt vorausschauend zu handeln.

Grossen ist in einer Partei, die keinen Bundesrat stellt. Zwischen den Sessionen hat seine GLP wenig Möglichkeiten, das Geschehen zu beeinflussen. Doch gerade jetzt fallen gewichtige Entscheide. Grossen wollte nicht machtlos zuschauen. Und so griff der Berner Oberländer Nationalrat zum Telefon. Vergangene Woche rief er alle anderen Parteipräsidenten an. Ihm, dem Mann der pragmatischen Mitte, gelang, was sonst selten jemandem gelingt: Von links bis rechts, von Lugano bis Oberägeri (ZG), ob Bundesratspartei oder nicht: Grossen stiess auf offene Ohren. Alle Parteipräsidenten unterschrieben einen Brief an den Bundesrat, der ein strengeres Grenzregime thematisierte, um die Schweiz zu schützen. Erstmals seit dem Frühling ist es gelungen, etwas mit allen Parteien zu machen.

Grossen formulierte den Brief, auf dem Mailweg gab es noch einige Änderungen. Es ist eine Art Home-Office-Geschichte der Parteipräsidenten: Jedenfalls walzten Parteiapparat, Bedenkenträger und Kommunikationsprofis für einmal nicht alle Unebenheiten gleich im Voraus platt.

Ein paar Tage später ist alles anders

Eine Woche später blickt Jürg Grossen zurück und sagt: «Ich habe wieder etwas gelernt über den Umgang mit Medien.» Ein wenig scheint er irritiert, enttäuscht. Der Brief wurde kein Erfolg. Neben Lob kamen Häme und Kritik zurück. Die Schlagzeilen würden der Absicht des Briefes nicht gerecht, sagt Grossen. Und:

GLP-Präsident Jürg Grossen.

GLP-Präsident Jürg Grossen.

Keystone
«Ich habe gelernt, dass rasch niemand mehr nachfragt, wie es wirklich gemeint war und der Interpretation freien Lauf gelassen wird.»

Dabei begann es so gut: In der «Sonntags-Zeitung» wurde der Artikel an prominentester Stelle platziert. Die Medien nahmen ihn auf. Doch die Halbwertszeit war kurz: Schon am Abend zerzausten Nationalrätinnen am Radio die Vorschläge ihrer Partei. Rasch wurde klar: Intern war nichts mit Politikern aus den betroffenen Grenzregionen abgesprochen, niemand war vorgewarnt. So einzigartig es war, alle Parteipräsidenten zu vereinen, so rasch war die Wirkung verpufft. Der Bundesrat liess nicht durchblicken, dass er den Brief besonders ernst nähme. Die Grenzregionen probten den Aufstand, Regierungsräte mischten sich ein. Aufarbeiten, telefonieren, Erzürnte besänftigen: Das war auch die Arbeit einiger Parteipräsidenten diese Woche.

Wer liest was? «Wir wurden falsch verstanden»

«Wir haben den Brief sicher nicht perfekt formuliert», sagt Grossen. «Ich stehe aber zu Inhalt und Absicht.» Man habe ihn auch falsch verstanden: Er habe lesen müssen, dass er die Grenzen schliessen wolle, im Gegenteil. Es sei ihm darum gegangen, eine Strategie zu entwickeln für den Fall, dass die Schweiz Ende Februar aufgrund tiefer Fallzahlen Restaurants und Geschäfte wieder öffnen könnte, auch wenn das umliegende Ausland höhere Ansteckungswerte hätte. Die Schweiz müsse Massnahmen ergreifen, damit die Öffnungen dann nicht kurzfristig bleiben. Es war das Vorausdenken, dass Grossen von der Politik fordert. Wenn das so gemeint war, war der Brief teilweise unklar formuliert.

Inzwischen hat Grossen wieder mit den Präsidenten telefoniert. Alle stehen noch dahinter. Sie sagen: Es gab Erfolge, der Bundesrat habe etwa bei den Flugreisenden wie im Brief gefordert reagiert. Vor allem aber seien die angehängten Forderungen nur Beispiele gewesen, wie eine Lösung aussehen könnte. Nicht jeder müsse jede Forderung gleich stark mittragen. «Es war kein sozialdemokratischer Brief», sagt SP-Co-Präsident Cédric Wermuth. Als SP-ler musste er wegen möglichen einschneidenden Massnahmen für die Grenzgänger harte Kritik einstecken. Nicht alles gefiel ihm am Brief, aber die Interessen aller Parteien waren vertreten, sagt Wermuth. Und zentraler Punkt war für ihn, eine Lösung zu finden, bei der die Grenzen offen bleiben - und auch mehr Tests standen oben auf der Liste der SP. Deshalb war es für ihn insgesamt ein tauglicher Vorschlag. Der Bundesrat habe die Ausdehnung des Testregimes schliesslich beschlossen. «Wir haben eine Diskussion angestossen», sagt Wermuth.

Politologe Claude Longchamp war überrascht

Claude Longchamp.

Claude Longchamp.

Annette Boutellier

Im Frühling hatten sich schon einmal alle Parteipräsidenten an den Bundesrat gewandt. Aber sonst ist dies ein einzigartiger Vorgang. Politologe Claude Longchamp kann sich an keinen anderen Brief aller Parteipräsidenten erinnern, der zumindest öffentlich geworden wäre. «Es scheiterte meist, weil sonst die SVP nicht kooperieren oder die anderen nicht mit der SVP kooperieren wollten», sagt Longchamp. «Offenbar wollte SVP-Präsident Marco Chiesa nun beweisen, dass seine Partei Regierungsverantwortung tragen kann.» - Quasi als Gegengewicht zu Fraktionschef Thomas Aeschi, der kein gutes Haar am Bundesrat lässt. Dann aber, so Longchamp, sei passiert, was passieren könne, wenn man nur einen Minimalkonsens hat: «Einmal reinstechen reicht.» Die empörte Grenzregion Basel, die Ostschweiz waren die Nadelstiche, die die Aktion platzen liessen.

So oder so ist der Brief ein Zeichen für die politische Lage in der Schweiz: Das Parlament kann nicht gestalten, es ist zwischen den Sessionen quasi auf standby. Für Wermuth zeigt sich die Grenze des Sessionssystems mit monatelangen Unterbrüchen. «Die Krise schreitet zwischen den Sessionen rasch vorwärts, das Parlament hat keine andere Handlungsmöglichkeit als Briefe zu schreiben.» Und wenn Session ist, dann muss in erster Linie abgesegnet werden, was schon beschlossen ist.

Ein neuer Brief ist derzeit nicht angedacht.