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Schweiz
Die Westschweiz und das Tessin verzeichnen mehr Zuwanderung und eine höhere Arbeitslosenquote als die Deutschschweiz. Für die SVP ist der Zusammenhang mit Personenfreizügigkeit «sonnenklar». Der Bund hingegen verneint einen Verdrängungseffekt. Und die Zuwanderung führe auch nicht zu sinkenden Löhnen.
«Von der Personenfreizügigkeit», sagt Gabrielle Ineichen-Fleisch, «profitieren nicht alle im gleichen Ausmass.» Die Staatssekretärin und Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) zeigt deshalb Verständnis, dass ein Teil der Bevölkerung befürchtet, sie könnte die Menschen aus dem Arbeitsmarkt drängen, die Löhne drücken und ältere Arbeitslose in Schwierigkeiten bringen. Bei der Präsentation des aktuellen Observatoriumsberichts zogen aber Ineichen-Fleisch und Boris Zürcher, Leiter der Direktion Arbeit beim Seco, das gewohnt positive Fazit zur Personenfreizügigkeit: steigende Löhne, steigende Erwerbstätigkeit, unbürokratischer Zugang zu Arbeitskräften. Das Abkommen gelte es zu erhalten, sagte Ineichen-Fleisch im Hinblick auf die SVP-Begrenzungsinitiative, über die das Volk am 27. September abstimmt. Dass die Nettozuwanderung aus dem EU/Efta-Raum in den letzten Jahren auf rund 30'000 Personen reduziert hat, dürfte nicht ungelegen kommen.
Allerdings fühlen sich auch die Initianten durch den Bericht bestätigt. Er offenbart: Ausgerechnet in die Westschweiz und ins Tessin sind seit Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit verhältnismässig am meisten EU-Bürger eingewandert. In den beiden Landesteilen ist die Erwerbslosen- und Arbeitslosenquote höher als in der Deutschschweiz.
Der Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit ist sonnenklar und entspricht den Rückmeldungen, die wir aus der lateinischen Schweiz erhalten
, sagt der Schwyzer SVP-Nationalrat Marcel Dettling. «Die Zuwanderer verdrängen die Einheimischen aus dem Arbeitsmarkt. Zudem geraten deren Löhne unter Druck», ergänzt der Kampagnenverantwortliche. Boris Zürcher und Roland Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, widersprechen mit Verweis auf empirische Studien: Es finde keine systematische Verdrängung statt, auch die Löhne würden nicht sinken, sagten sie. Die Arbeitslosigkeit sei in der lateinischen Schweiz schon vor Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit höher gewesen, so Zürcher. Zudem habe die wirtschaftliche Dynamik am Genferseebogen die Zuwanderung begünstigt. Schliesslich sei der Wanderungssaldo im Tessin im letzten Jahr zum ersten Mal negativ eingefallen. Er sei allerdings durch Grenzgänger kompensiert worden.
Reto Föllmi, Volkswirtschaftsprofessor an der Uni St.Gallen, hat sich in mehreren Studien mit dem Thema Zuwanderung befasst. Er bestätigt die Einschätzungen des Bundes zum Thema Verdrängungseffekt. «Die Zuwanderer nehmen jene Stellen an, welche nicht mit Inländern besetzt werden.» Auch er führt die höhere Arbeitslosigkeit und Erwerbslosenquote im Tessin und in der Westschweiz nicht auf den freien Personenverkehr zurück. Diverse Untersuchungen lieferten Anhaltspunkte für den Unterschied zur Deutschschweiz. «Sie zeigen etwa, dass sich die Menschen in der Romandie nach dem Verlust des Arbeitsplatzes schneller bei der Arbeitslosenkasse anmelden und vor allem mehr Zeit vergeht, bis sie wieder eine neue Stelle finden.» Einen weiteren Grund sieht er im Ausbildungsniveau. In der Deutschschweiz verfügten mehr Personen über eine Berufslehre und weiterführende Ausbildungen.
Besonders ins Gewicht fällt das bei den Frauen, die im Durchschnitt 33,7 Stunden und damit 15 Prozent länger arbeiten als Schweizerinnen. Aufgrund des steigenden Wohlstandsniveau von Schweizerinnen steige deren geleisteter Arbeitseinsatz langsamer an, heisst es dazu im Bericht. Zuwanderer verrichten häufiger Abend- und Nachtarbeit als Schweizer. Bei den Frauen aus Oststaaten trifft das sogar auf jede Vierte zu. Das entspricht Zürchers Alltagserfahrungen. «Wenn ich am Abend das Büro verlasse, erscheinen sie zur Arbeit», sagt er.
Der Observatoriumsbericht liefert wie immer einen bunten Strauss an Grafiken und Fakten rund um die Personenfreizügigkeit. Ins Auge fällt, dass 87,7 Prozent aus den EU/Efta-Staaten am Erwerbsleben teilnehmen – drei Prozent mehr als Schweizer. «Die Zuwanderer kommen explizit zum Arbeiten in die Schweiz», sagte Zürcher. Sie leisten pro Woche zudem mehr Arbeitsstunden als die Einheimischen.
Im Durchschnitt verdienen die EU/Efta-Zuwanderer zwischen 8 Prozent (Deutschschweiz und Romandie) und 12 Prozent (Tessin) weniger als Schweizer. Grenzgänger in der Deutschschweiz erzielen im Schnitt einen um ein Prozent höheren Lohn als Schweizer. In der Westschweiz fällt ihr Salär jedoch um 11, im Tessin gar um 30 Prozent tiefer aus. Der Grund für die Unterschiede liegt in der Qualifikation und den Branchen, in denen die Grenzgänger tätig sind. Die deutlich tieferen Verdienste im Tessin wertet Zürcher nicht als Indiz für Lohndumping. «Tiefe Löhne bedeuten nicht Lohndumping», sagte er auf eine entsprechende Anfrage.