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Schweiz
Das Wallis legt das Leben ausserhalb der Arbeit faktisch still und erhält dafür Lob vom Gesundheitsminister. Am Donnerstag trifft sich Alain Berset mit den Kantonen zum Krisengipfel.
5596 neue Coronafälle, das Land wartet auf den Auftritt von Gesundheitsminister Alain Berset, das Schweizer Fernsehen überträgt die Medienkonferenz in die Stuben, doch zunächst brauchen die Zuschauer Geduld: Berset spricht 15 Minuten lang über den Gegenvorschlag zur Prämien-Initiative der SP, bevor er zum Thema kommt, das die Bevölkerung im Moment wirklich beschäftigt. Den Alltag durchdringt, wie sonst nichts. Covid-19.
Vor drei Wochen hatten wir eine der besten Situationen in ganz Europa. Heute haben wir eine der Schlimmsten.
Das sagt Berset am Mittwochnachmittag. Die Fälle verdoppeln sich jede Woche, die Hospitalisationen auch. «Die Lage ist ernst», warnt der Magistrat. Und dennoch wartet der Bundesrat zu: «Wir werden mit grosser Wahrscheinlichkeit am kommenden Mittwoch strengere Massnahmen beschliessen.»
Eine Woche zuwarten? Nicht ganz. Auf den Bundesrat sind zwar die Augen gerichtet, entschieden wird aber in den Kantonen. Eine halbe Stunde zuvor hat die Walliser Regierung vorexerziert, was der ganzen Schweiz drohen könnte: Der Kanton legt das Leben ausserhalb der Arbeit praktisch still. Christophe Darbellay, Präsident des Staatsrates, spricht von schwierigen Entscheiden. «Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir müssen die teuflische Dynamik durchbrechen.» Seine Kollegin Esther Waeber-Kalbermatten warnt:
Es ist fünf nach zwölf.
Das Wallis ist Spitzenreiter. Kein anderer Kanton hat derart viele Leute mit einem positiven Testresultat. Wallis ist ein Extrem. Und extrem sind auch die Massnahmen. So verbietet der Kanton ab Donnerstag – und vorerst bis Ende November – Versammlungen ab 10 Personen. Und zwar im öffentlichen wie auch im privaten Raum. Ebenfalls schliesst der Kanton vorübergehend Clubs, Bars, und Erotikclubs. Aber auch Freizeiteinrichtungen wie Kinos, Theater, Schwimmbäder und Fitnesscenter bleiben zu.
Für Cafés, Restaurants und Pubs gilt derweil eine Sperrstunde ab 22 Uhr. Neu dürfen im Wallis zudem nur noch maximal vier Gäste an einem Tisch sitzen. An den Fachhochschulen gilt wieder Fernunterricht. Und Kontaktsportarten wie Fussball und Eishockey sind verboten – ausser für die Profis.
Weshalb ist gerade der Kanton Wallis derart stark betroffen? «Zufall», sagt Gesundheitsdirektorin Waeber-Kalbermatten. Man sei halt ein Tourismuskanton. Die Jagdsaison sei gerade vorbei. Es gab politische Versammlungen. Ohnehin möge man es gesellig. Festmachen an einer einzelnen Veranstaltung könne man die «Explosion» aber nicht. Darbellay sprach von vielen Ansteckungen in der Familie und mit Freunden: «Weil wir uns in falscher Sicherheit gewiegt haben.» Später gab es Lob für die Walliser Entscheide aus dem Bundeshaus. Berset sagte:
Der Kanton hat gezeigt, wie man es machen kann. Es sind harte, aber verhältnismässige Massnahmen.
Auch landesweit zeigen die Zahlen nach oben. Und nachdem das Bundesamt für Gesundheit den Begriff «zweite Welle» lange nicht benutzen wollte, stellte Bundesrat Berset gestern ein für alle Mal klar:
Es ist die zweite Welle, und sie ist nicht kleiner als die erste.
Die Situation verschlechtere sich sehr schnell. Pro 100'000 Einwohner verzeichnete die Schweiz in den vergangenen 14 Tagen 390 Fälle. Zum Vergleich: Bereits ab einer Inzidenz von 60 Fällen pro 100'000 Einwohner setzt der Bund Länder auf die Risikoliste; wer von dort einreist, muss zehn Tage in Quarantäne.
Trotz der stark steigenden Zahlen, trotz zweiter Welle: Einen Lockdown wie im Frühling will der Bundesrat vermeiden, ebenso einen kürzeren «Minilockdown», wie ihn manche Epidemiologen fordern. «Ziel ist, eine Schliessung der Gesellschaft zu verhindern», sagte Berset. Trotzdem werde das Szenario natürlich diskutiert. Denn, ob das Ziel, einen Lockdown zu vermeiden, tatsächlich gelingt, steht noch in den Sternen.
Ausschliessen, dass es doch zu einem Minilockdown kommt, konnte Berset nicht. «Wir sind heute nicht an dem Punkt, dass wir das machen müssten», sagte er, schob aber nach: «Das kann sich schnell ändern.» Der Bundesrat versuche, den Schaden für die Gesundheit und die Gesellschaft möglichst klein zu halten. Dafür suche er gemeinsam mit den Kantonen den besten Weg. Nur zwei Optionen seien ausgeschlossen: «Alles für 18 Monate schliessen oder gar nichts machen.»
Vorerst versucht der Bundesrat, mit gezielten Massnahmen den steilen Anstieg der Fallzahlen abzubremsen. Bis Mitte nächster Woche wird sich zeigen, ob die am Sonntag getroffenen Beschränkungen – Ausweitung der Maskenpflicht, Einführung der 15er-Regel, Empfehlung zur Arbeit zu Hause – den gewünschten Effekt bringen. Flacht die Kurve nicht ab, will der Bundesrat kommenden Mittwoch weitere Massnahmen beschliessen. Diese würden Veranstaltungen, Ansammlungen und öffentliche Einrichtungen betreffen, sagte er, ohne näher ins Detail zu gehen. Berset appellierte zudem wiederholt an die Kantone, wo nötig rasch und entschlossen zu handeln.
Nebst dem Wallis zogen weitere Kantone die Schrauben an. Nach Bern verboten gestern auch die beiden Basel Grossveranstaltungen mit über 1000 Personen; Solothurn führt eine Sperrstunde in Bars und Clubs ein. Es sei anzunehmen, dass weitere Kantone zusätzliche Massnahmen beschliessen werden, heisst es bei der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK). Auch Massnahmen wie im Wallis sind offenbar denkbar. Sprecher Tobias Bär sagt:
Die im Wallis getroffenen Massnahmen können durchaus auch für andere Kantone zum Thema werden.
Kantone und Bund setzten alles daran, «gemeinsam und im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Pandemie einzudämmen». Die GDK trifft sich heute mit Bundesrat Berset, um sich über die epidemiologische Lage und die nächsten Schritte auszutauschen.
«Die nächsten zwei, drei Wochen sind entscheidend für uns», sagte Berset. Der Bundesrat wird beobachten, wie gut sich die Bevölkerung an die Massnahmen hält. Auch anhand von Mobilitätsdaten. Um sich ein Bild der Lage zu machen, liess der Bund bereits im Frühjahr anonymisierte Handydaten von der Swisscom auswerten. Diese bildeten die Reiseaktivitäten der Bevölkerung nachträglich ab.
Die Auswertung zeigte rasch eine deutliche Reduktion der Reiseaktivitäten, nachdem der Bundesrat im März ein Versammlungsverbot verhängt hatte. Über den Sommer näherte sich die Mobilität dann wieder dem Niveau von vor dem Lockdown an. Mobilitätsdaten könnten nun wieder wichtiger werden: Man werte diese im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) weiterhin aus, bestätigt eine Sprecherin des Bundesamts für Bevölkerungsschutz. Ein entsprechendes Monitoring wird unterdessen bloss noch monatlich erstellt. Die jüngste Ausgabe wurde kürzlich dem BAG zur Verfügung gestellt; sie ist noch nicht öffentlich zugänglich.
«Es gibt keinen Grund, Angst zu haben, aber sehr viel Respekt – und jetzt bitte Engagement», sagte Berset. Die Schweiz habe im Frühling gezeigt, dass sie die Lage meistern könne. «Die Frage ist, welche Massnahmen es braucht, um das wieder zu reaktivieren.»