Strassburg
Neue Art von Beschwerden beim Gerichtshof für Menschenrechte: Bundesrichter plädiert für Reform

In türkischen Zeitungen wurde er als Terroristenunterstützer gebrandmarkt. Doch Bundesrichter Thomas Stadelmann setzt sich weiterhin für Berufskollegen in der Türkei ein. Und er plädiert für eine Reform des Strassburger Gerichtshofes.

Kari Kälin
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Bundesrichter Thomas Stadelmann setzt sich für inhaftierte, türkische Richter ein.

Bundesrichter Thomas Stadelmann setzt sich für inhaftierte, türkische Richter ein.

Manuela Jans-Koch

Eine frohe Botschaft hat Thomas Stadelmann nicht im Gepäck, als er kurz vor Weihnachten zum Interviewtermin in einem Café in Luzern erscheint. Vor kurzem hat der 60-jährige Bundesrichter das Buch herausgegeben mit dem Titel «Democracy falling apart» (Die Demokratie bricht zusammen). Es zeigt am Beispiel der Türkei auf, welche Rolle Rechtsstaat und richterliche Unabhängigkeit für eine Demokratie spielen. Dabei ziehen Stadelmann und seine Mitautoren ein düsteres Fazit über den aktuellen Zustand der Justiz in diesem Land.

Vor dem gescheiterten Putsch im Sommer 2016 zählte die Türkei 16000 Richter und Staatsanwälte. Danach entliess das Regime 4400 Justizbeamte und eröffnete gegen 4000 ein Strafverfahren wegen angeblicher Beteiligung am Umsturzversuch. Ende August befanden sich immer noch 700 Richter und Staatsanwälte in Haft, bloss sechs wurden freigesprochen. Die Gewaltentrennung und unabhängige Gerichte sind Geschichte, nach dem Putschversuch im Sommer 2016 hat Präsident Recep Tayyip Erdogan die Justiz definitiv unter sein Joch gebracht. Laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen werden inhaftierte Personen von der Polizei gefoltert oder auf andere Weise misshandelt.

Persönlich hat CVP-Mitglied Stadelmann Ende November einen Lichtblick erlebt. Die juristische Fakultät der Universität Basel verlieh ihm den Titel eines Ehrendoktors, unter anderem für seinen Einsatz für inhaftierte Richter und Staatsanwälte in der Türkei. Bis Ende November war Stadelmann Delegierter der Europäischen Richtervereinigung (EAJ). In dieser Eigenschaft half er mit, einen Solidaritätsfonds für türkische Richter und Staatsanwälte und deren Familienangehörigen zu gründen und zu leiten. Dieses Engagement führt er fort.

Thomas Stadelmann, Sie sind befreundet mit rund zehn Richtern und Staatsanwälten in der Türkei. Wie geht es diesen zweieinhalb Jahre nach dem Putschversuch?

Alle, die ich persönlich kenne, sind immer noch in Haft oder es läuft ein Verfahren gegen sie. Mit ihren Ehefrauen und Bekannten habe ich via E-Mail ganz wenig Kontakt mit ihnen. In letzter Zeit erfahre ich leider fast gar nichts mehr über ihr Schicksal, ihre Haft- und Prozessbedingungen.

Was geht Ihnen durch den Kopf?

Das ist eine schlimme Situation, man fühlt sich hilflos. Bekannte von mir zeichnen ein düsteres Bild über die rechtsstaatlichen Zustände in der Türkei. Die Verfahren sind kafkaesk. Die Richter und Staatsanwälte wissen nicht genau, weshalb sie angeklagt sind. Gleichzeitig treten Zeugen auf, die gegen die Angeklagten aussagten, weil die Staatsmacht ihnen dafür Vorteile versprochen hat. Viele nehmen dann am Prozess ihre Aussage wieder zurück, ohne dass dies aber Konsequenzen für das Verfahren hätte. Der Pauschalvorwurf gegen die Angeklagten lautet, sie seien am Putschversuch beteiligt gewesen und deshalb Terroristen-Unterstützer. Ein Anklagepunkt ist zum Beispiel, Bylock, ein auf dem Google Store erhältliches Chatprogramm mit verschlüsselter Kommunikation, heruntergeladen zu haben.

Und dann?

Die Untersuchungsbehörden gehen davon aus, Bylock sei von Terroristen verwendet worden. Daraus schliessen sie dann, dass Personen, die dieses Programm auf ihrem Mobiltelefon haben, potenzielle Anhänger des von Präsidenten Erdogan verhassten Predigers Fethullah Gülen sind und in den Putschversuch involviert waren.

Haben Sie persönlich Vorsichtsmassnahmen getroffen für die Kommunikation?

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten hatte mich darauf aufmerksam gemacht, ich müsse davon ausgehen, dass meine E-Mail- und Whatsapp-Nachrichten im Zusammenhang mit der Türkei mitgelesen werden. Seither benutze ich ein spezielles Schweizer Produkt namens Threema, eine Art verschlüsseltes Whatsapp. Auch für die E-Mails benutze ich ein Programm mit Verschlüsselung.

Sie sind im Visier des türkischen Geheimdienstes?

Das weiss ich nicht. Auf jeden Fall bin ich seit dem Putschversuch nie mehr in die Türkei gereist. Das wäre mir zu riskant. Mein Name und jener eines deutschen Richterkollegen standen schon in türkischen Zeitungen. Es hiess, wir würden über die Europäische Richtervereinigung Terroristen unterstützen mittels des Solidaritätsfonds, den wir für Richter und Staatsanwälte sowie deren Familien eingerichtet haben, die im Zuge der Säuberungswelle nach dem Putschversuch ihre Anstellung verlorenen haben und angeklagt und inhaftiert sind.

Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?

Dass er völlig falsch ist. Die EAJ ist politisch absolut neutral, sie setzt sich für Rechtsstaatlichkeit und eine Unabhängige Justiz in Europa ein. Mit dem Fonds helfen wir Personen, die wegen der Willkürjustiz in Not geraten sind. Entlassene finden keinen Job, im Staatsdienst dürfen sie nicht mehr arbeiten, und private Arbeitgeber wollen sie nicht beschäftigen. Und Familien von inhaftierten Personen werden in Sippenhaft genommen: sie haben ihre Existenzgrundlage verloren und stehen vor dem Nichts. Wir wollen die Familien der Betroffenen finanziell und moralisch unterstützen.

Wie viele Familien haben Sie bisher unterstützt?

Bis Ende Oktober dieses Jahres hatten wir 460 Anfragen. Unterstützt mit einem einmaligen Beitrag haben wir bis jetzt 140 Familien. Die ausbezahlte Summe beträgt 90000 Euro, also deutlich weniger als 1000 Euro pro Familie.

Wie kann die Europäische Richtervereinigung ihren türkischen Berufskollegen in der Türkei helfen?

Primär mit dem Fonds. Wir signalisieren mit diesen kleinen Beiträgen auch, dass wir sie nicht vergessen haben. Zudem versuchen wir, politisch über diverse Kanäle Einfluss zu nehmen. Ficht zum Beispiel ein türkischer Richter ein Urteil vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg an, kann die Richtervereinigung Eingaben machen und damit dem EGMR zum Beispiel aufzeigen, dass die Rechtsmittel in der Türkei nicht greifen. Wir konnten auch schon bei der EU-Kommission vorsprechen und im Europarat eine Veranstaltung durchführen. Einzelne Mitglieder der parlamentarischen Versammlung des Europarats unterstützen unsere Bemühungen. Eine konkrete Wirkung entfalten sie aber noch nicht.

Beim EGMR gingen nach dem Putschversuch Dutzende Klagen ein. 2017 wurde die Türkei in 46 Fällen wegen eines unfairen Verfahrens gerügt. Das scheint Erdogan kaum zu beeindrucken.

Verurteilungen der Türkei durch Strassburg haben bis jetzt leider keine grosse Wirkung erzielt. Der EGMR ist zudem gar nicht in der Lage, die zahlreichen Individualbeschwerden innert nützlicher Frist zu behandeln, weil er überlastet ist. Immerhin hat der EGMR begonnen, bezüglich der Türkei Pilotfälle einzuführen. Das heisst, er behandelt einen Fall, und die Idee ist, dass der Staat daraus dann auch in den anderen Fälle reagiert und diese gleich behandelt, wie im Pilotfall entschieden wurde.

Würden Staatenbeschwerden weiterhelfen? Jedes der 47 Länder, welche die Europäische Konvention (EKMR) für Menschenrechte unterzeichnet haben, könnte theoretisch die Türkei wegen ihrer Willkürjustiz einklagen.

Das Instrument der Staatenbeschwerde wäre selbstverständlich effizienter. Es wird aber sehr selten eingesetzt und wenn, dann vor allem von Staaten, die mit einem anderen Staat in einem handfesten Konflikt liegen. Eine Staatenbeschwerde könnte als Angriff auf einen souveränen Staat empfunden werden und deshalb zu diplomatischen Verstimmungen führen.

Was wäre eine taugliche Alternative?

Ich plädiere für eine Organbeschwerde. Anstatt Staaten könnten zum Beispiel Institutionen wie der Europarat oder die Menschenrechtskommission der UNO eine Klage einreichen.

Welche Vorteile hätte das?

Diese Organe wären politisch unabhängiger. Sie könnten frei von diplomatischen Überlegungen prüfen, ob eine Klage opportun wäre oder nicht. Sie müssten auch nicht – wie bei der Individualbeschwerde – eine persönliche Betroffenheit nachweisen, sondern könnten bereits gegen den Erlass menschenrechtswidriger Gesetze klagen. Um Organbeschwerden zu ermöglichen, müsste man allerdings die Europäische Konvention für Menschenrechte (EKMR) anpassen. Ich kann mir vorstellen, diesen Reformvorschlag über Schweizer Politiker einzubringen, die in der parlamentarischen Versammlung des Europarats sitzen.

Der EGMR forderte vor gut zwei Wochen die Freilassung von Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas. Die Türkei beeindruckt das nicht, das zuständige Gericht hält sich nicht an das Urteil. Was geht Ihnen durch den Kopf?

Dass der EGMR im Endeffekt keine Mittel hat, seine Entscheide durchzusetzen. Zuständig ist das Ministerkomitee des Europarates. Doch dort kommen rasch politische Überlegungen ins Spiel: Wie hart sollen die Sanktionen sein? Und was passiert, wenn sich ein Land ganz aus der EMRK verabschiedet? Dann wären die Menschenrechte der Bürger gar nicht mehr durch eine höhere Instanz geschützt. Wir haben es mit einem klassischen Dilemma zu tun. Interessanterweise landen Menschenrechtssünder – anders als beim Steuerrecht – nicht auf einer schwarzen Liste.

Wie erklären Sie sich das?

Die internationale Politik wendet unterschiedliche Massstäbe an. Sie gewichtet wirtschaftliche Interessen höher als grundsätzliche Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltentrennung. Wenn der OECD ein Steuerregime eines Landes nicht passt, stellt sie es an den Pranger und setzt es unter Druck. Wenn ein Land die Menschenrechte missachtet, landet es aber nicht auf einer schwarzen Liste.