Da Tamedias Renditeerwartung nicht erfüllt wurde, droht dem Boulevardblatt «Le Matin» nach 125 Jahren das Aus.
Nach 125 Jahren ist Schluss: Laut einer gut unterrichteten Quelle hat der grösste Schweizer Verlag Tamedia über Pfingsten den Entscheid gefällt, die gedruckte Ausgabe der traditionsreichen Westschweizer Tageszeitung «Le Matin» noch diesen Sommer einzustellen. Das Aus für das von Montag bis Samstag erscheinende Boulevardblatt käme nicht überraschend, aber schneller als zuletzt erwartet. So schrieb «Le Matin»-Chefredaktor Grégoire Nappey im Dezember auf seinem Facebook-Profil, es sei die Strategie von Verleger Pietro Supino, «Le Matin» bis in zwei Jahren nur noch digital herauszugeben. Und im März sagte eben jener Supino gegenüber dem Westschweizer Fernsehen RTS, «Le Matin» entspreche «nicht vollständig der strategischen Positionierung von Tamedia. Die langfristige Zukunft der Marke werde digital sein. «Es ist aber noch zu früh, um zu sagen, wann und wie.»
Nun scheint die Einstellung des Printprodukts beschlossene Sache zu sein, auch wenn der Zürcher Medienkonzern vorerst dementiert. «Tamedia hat noch keinen Entscheid über die Zukunft von ‹Le Matin› getroffen», sagte Sprecher Patrick Matthey gestern auf Anfrage der «Nordwestschweiz». Die Einstellung der Printausgabe sei ein mögliches Szenario, aber nicht das einzige. Auch wenn die Zeitung seit mehr als zwanzig Jahren rote Zahlen schreibe, sei «Le Matin» eine starke Marke, so Matthey. «An ihr wollen wir im digitalen Bereich so oder so festhalten, unabhängig davon, ob wir auch weiterhin eine Printzeitung herausgeben.»
Streicht Tamedia die gedruckte Ausgabe, wird die ohnehin nicht sehr vielfältige Medienlandschaft der Romandie noch ärmer. Seit bald zwei Jahren jagt in der Westschweiz eine Hiobsbotschaft die andere: Erst entliess Tamedia als Herausgeberin der Tageszeitungen «24 heures» und «Tribune de Genève» im Herbst 2016 zwei Dutzend Mitarbeiter, dann stellte Ringier Axel Springer im Januar 2017 das Wochenmagazin «L’Hebdo» ein und baute 37 Stellen ab. Radikal umgebaut wurde auch die Tageszeitung «Le Temps», die ebenfalls im Besitz Ringiers ist und bei der ein Drittel der Mitarbeiter gehen musste.
Im vergangenen August dann kündigte Tamedia an, per Anfang 2018 sowohl in der Deutschschweiz als auch ennet des Röstigrabens sogenannte Kompetenzzentren zu gründen: Seither beliefert eine Einheitsredaktion von Lausanne aus die «Tribune de Genève», «24 heures» und «Le Matin Dimanche» mit überregionalen Inhalten. Nicht ins Kompetenzzentrum aufgenommen wurde hingegen die Redaktion von «Le Matin», die stattdessen mit jener der Gratiszeitung «20 minutes» fusionierte. Viele Mitarbeiter deuteten diesen Schritt als untrügliches Zeichen, der Konzern glaube nicht mehr an die Zukunft einer papierenen Boulevardzeitung.
Die von den Verlegern geförderte Gratismentalität sei schuld am Niedergang von «Le Matin», sagt mit Peter Rothenbühler einer der wichtigsten Kenner der welschen Medienszene. Ab 2002 war er sechs Jahre lang Chefredaktor von «Le Matin», später fungierte er als stellvertretender publizistischer Direktor von Tamedia Publications romandes. «Das Aufkommen der beiden Gratiszeitungen ‹Le Matin Bleu› und ‹20 Minutes› in den Jahren 2005 und 2006 war im Rückblick der Genickschlag für ‹Le Matin›», so Rothenbühler. «Das traditionsreiche Boulevardblatt bot gegen Bezahlung zum Verwechseln ähnlichen Inhalt im selben Tabloidformat – das konnte auf Dauer nicht funktionieren.» Tatsächlich sank die Auflage auf zuletzt 37 634 Exemplare. Die Leserschaft schwand von 353 000 (2005) auf aktuell noch 218 000.
Die Nachricht, dass Tamedia wohl bereits über die Einstellung von «Le Matin» entschieden hat, überrascht den 69-Jährigen nicht: «Die Frage ist nicht, ob Supino die Printausgabe von ‹Le Matin› einstellt, sondern nur, wann dieser Entscheid kommuniziert wird.» Supino wisse, dass sein Konzern der Verlegerfamilie Lamunière vor zehn Jahren einen sehr hohen Preis für «Le Matin», «Tribune de Genève», «24 heures» und weitere Zeitungen bezahlt habe, den er nie werde einspielen können. «Deshalb versucht der Geschäftsmann Supino seit Jahren, den besonders defizitären ‹Le Matin› zu verkaufen. Bis heute fand er keinen Interessenten.»
So traurig das absehbare Ende des gedruckten «Le Matin» sei: Man dürfe in der Westschweiz nun keinen Aufstand der Politik oder gar der Bevölkerung erwarten. «Die Romandie hat sich längst damit abgefunden, dass sie von Tamedia nichts Gutes erwarten kann», so Rothenbühler. «Man nimmt bloss resigniert zur Kenntnis, dass sich Pietro Supino nicht für das Welschland interessiert, sondern bloss für seine Gewinnmargen.»