Krieg in der Ukraine
Dass die Schweiz EU-Sanktionen übernimmt, ist die Regel, nicht die Ausnahme

Der Bundesrat spricht angesichts der beschlossenen Sanktionen gegen Russland von einem grossen Schritt der Schweiz. Stimmt das wirklich?

Anna Wanner
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Als die Schweiz in Person des Bundespräsidenten Didier Burkhalter den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) innehatte, begrüsste dieser auch den russischen Präsidenten Wladimir Putin an einer Konferenz.

Als die Schweiz in Person des Bundespräsidenten Didier Burkhalter den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) innehatte, begrüsste dieser auch den russischen Präsidenten Wladimir Putin an einer Konferenz.

Georg Hochmuth / APA

Einfrieren von russischem Vermögen, Einreiseverbote und Sperrung des Luftraums für russische Flugzeuge. Nach einigem Zögern hat die Schweiz am Montag entschieden, die Sanktionen gegen Russland von der EU zu übernehmen. Bundespräsident Ignazio Cassis erklärte dies, als grossen Schritt für ein Land, das die Neutralität seit Jahrhunderten hoch hält. Stimmt das wirklich? Wie ist die Sanktionspolitik einzuordnen?

Zur Übersicht: Aktuell hat die Schweiz Sanktionen gegen 24 Staaten, Personengruppen oder Organisationen erlassen. Dazu zählen einerseits Massnahmen, die der UNO-Sicherheitsrat beschlossen hat. Auslöser solcher Massnahmen sind nicht zwingend militärische Aggressionen. Namentlich auch Menschenrechtsverletzungen führen dazu, dass der UNO-Sicherheitsrat Sanktionen gegen ein Land oder Personengruppen beschliesst. Seit ihrem UNO-Beitritt vor zwanzig Jahren ist die Schweiz verpflichtet, diese Sanktionen zu übernehmen. Auf der UNO-Liste stehen Staaten wie der Irak, der Sudan, Nordkorea, Somalia, Iran sowie Personen und Organisationen, die mit Osama Bin Laden, den Taliban oder Al Qaida verbunden sind.

Fast genauso häufig übernimmt die Schweiz andererseits Sanktionen der EU, etwa im Falle von Weissrussland, Syrien, Simbabwe, Guinea oder Myanmar. Manchmal schliesst sich die Schweiz auch EU-Sanktionen an, die über den Beschluss des UNO-Sicherheitsrats hinausgehen, beispielsweise bei Sanktionen gegen Libyen, den Südsudan oder den Kongo.

Daraus wird deutlich: Dass die Schweiz die Sanktionen der EU kopiert, ist die Regel - und nicht die Ausnahme.

Güterabwägung zwischen Reputationsschaden und Guten Diensten

2017 veröffentlichte der Bund im Auftrag der Geschäftsprüfungskommission einen Bericht über die Sanktionspraxis des Bundes. Nach welchen Kriterien beschliesst die Regierung Sanktionen? Eine Essenz daraus: «Die Schweiz übernimmt seit 1998, als es in der Folge des Kosovo-Konflikts zu Sanktionen gegen Jugoslawien kam, grundsätzlich die EU-Sanktionen.» Begründet werde die Beteiligung an den Sanktionen mit völkerrechtlichen Argumenten, aber hauptsächlich weil die Schweiz nicht zur Umgehung von EU-Sanktionen genutzt werden soll. Der Grund: das Reputationsrisiko.

Nur in einzelnen Fällen, wie bei Sanktionen gegen den Iran, Nordkorea oder eben auch Russland wird von diesem Grundsatz abgewichen. Der Bundesrat überprüft einen Alleingang, wenn «bedeutende aussenpolitische oder aussenwirtschaftspolitische Interessen der Schweiz» betroffen sind, wenn also die Beziehungen der Schweiz zum sanktionierten Land eine grössere Bedeutung haben. Das war der Fall bei Sanktionen gegen den Iran, wo die Schweiz die Interessen der USA über ein Schutzmachtmandat vertritt. In Nordkorea bewacht die Schweiz seit bald 70 Jahren die Grenze, die Demarkationslinie zwischen Süd- und Nordkorea. Und nach der ersten Aggression Russlands gegen die Ukraine 2014 hat die Schweiz dazu beigetragen, die Minsker Abkommen auszuhandeln.

Es geht also um eine Güterabwägung. Auf der einen Seite steht der Reputationsschaden und mit ihm die Gefahr als Kriegs- oder Krisenprofiteur dazustehen, wenn die Schweiz die Sanktionen der EU nicht übernimmt. Auf der anderen Seite fliessen auch konkrete Fragen zur Aussenpolitischen Strategie in die Abwägung ein: Bietet die Schweiz im betroffenen Land Gute Dienste an? Und könnte die Übernahme von Sanktionen den schweizerischen Mediationsversuchen, dem internationalen Genf oder der Glaubwürdigkeit der Schweiz als Vermittlerin schaden?

Die Ausnahme liefert just jene Verordnung, die in diesen Tagen zu hitzigen Diskussionen führte: «Massnahmen zur Vermeidung der Umgehung internationaler Sanktionen im Zusammenhang mit der Situation in der Ukraine». 2014 hat die Schweiz explizit EU-Sanktionen nicht übernommen, um zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln.

Lang erwartete Kehrtwende

Und heute? Der Bundesrat wollte die Verordnungen an die neuen Sanktionen anpassen, um Umgehungen der EU-Sanktionen zu verhindern. Er wollte aber keine eigenen Sanktionen ergreifen - bis es gestern zur Kehrtwende kam: Die Schweiz hat sämtliche EU-Sanktionen übernommen.

FDP-Ständerat Andrea Caroni (AR) plädierte von Beginn für die volle Übernahme der EU-Sanktionen. Er ist ein Kenner der Materie, hat auf über Wirtschaftssanktionen seine Dissertation geschrieben. Er bestätigt, dass die Schweiz zumeist die EU-Sanktionen übernimmt. Für ihn gibt es zwei Gründe, wieso der Bundesrat noch zuwartete. «Erstens bestand wohl noch ein Funken Hoffnung, dass die Schweiz Russland an den Verhandlungstisch bringen könnte. Für einen solchen Erfolg nimmt der Bundesrat auch zwei, drei Tage Prügel in Kauf.» Als der Bundesrat eingesehen habe, dass er nicht zwischen den Parteien vermitteln kann, habe er sich entschieden, die EU-Sanktionen zu übernehmen.

«Der zweite Grund ist profaner und problematischer: Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) war nicht auf den Fall eines Angriffskriegs vorbereitet. Das Departement von Guy Parmelin hatte keine Entscheidungsgrundlage für den Bundesrat geliefert.»