Die Justizministerin und ihr Amtschef Mario Gattiker suchen Gründe, warum die Schweiz keine afghanischen Flüchtlinge aufnehmen kann. Das widerspricht der humanitären Tradition des Landes.
Mario Gattiker wühlte in der «Samstagsrundschau» von Radio SRF tief in der Märchenkiste: «Hunderte von Checkpoints» habe zu passieren, wer an den Flughafen von Kabul gelangen wolle. Für «tatsächlich Verfolgte» sei das «hochgefährlich». Darum machen sie sich besser nicht zum Airport auf – und damit auch nicht in die Schweiz.
Der Chef des Bundesamtes für Migration liegt ganz auf der Linie seiner Chefin, Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP). Auch ihr fallen viele Gründe ein, warum die Schweiz nicht mehr tun kann, abgesehen von der Evakuation der Deza-Mitarbeiter und ihrer Angehörigen. Die Taliban halten die Grenzen Afghanistans geschlossen, folglich ist die Schweiz gar nicht in der Lage, Menschen ausser Landes zu bringen. Die Uno muss zuerst über ein Resettlement-Programm entscheiden, das die Ausreise von afghanischen Flüchtlingen aus Nachbarländern Afghanistans festlegt. Undsoweiter.
Grossbritannien und Kanada, aber auch Albanien, Kosovo und Nordmazedonien schoben anders als Keller-Sutter und Gattiker keine prozeduralen Hürden vor, sondern erklärten sich nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit.
Die Anführer der Taliban verbreiteten an einer Medienkonferenz Schalmeienklänge – es ist aber damit zu rechnen, dass unter ihrem Regime viele Afghanen an Leib und Leben bedroht sind. Weil sie für staatliche Behörden oder private Organisationen arbeiteten, die den Taliban zuwider sind. Und welche Zukunft haben Frauen in Afghanistan, die in vergangenen Jahren ein einigermassen selbstbestimmtes Leben führten und das weiterhin tun wollen? Die Schweiz täte gut daran, jetzt nicht bürokratische Pedanterie herauszukehren, sondern die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge vorzubereiten. Sie stände damit in einer Reihe mit westlichen Demokratien, die einen Beitrag leisten wollen zur Linderung der Katastrophe, die sich abzeichnet.
Politiker der SP und der Grünen fordern den Bundesrat dazu auf, 10'000 Afghanen aufzunehmen. Die Zahl ist willkürlich gewählt, und die Forderung dient auch der Selbstprofilierung. Wenn nun aber rechte Politiker erklären, dass dies völlig unmöglich sei, ist das Unsinn. Ein Land mit einem Bruttoinlandprodukt von 700 Milliarden Franken – die Schweiz ist die zwanziggrösste Volkswirtschaft der Welt – soll nicht in der Lage sein, in kurzer Zeit 10'000 Menschen aufzunehmen? Wer soll das glauben? Wichtig ist aber nicht diese Zahl. Wichtig ist, dass die Schweiz mithilft bei der Bewältigung einer internationalen Krise, statt sich in technokratischen Betrachtungen zu ergehen.
Mario Gattiker redet gerne davon, dass Millionen von Afghanen in Nachbarländern wie Iran und Pakistan «Schutz gefunden» hätten und die humanitäre Hilfe der Schweiz dort ansetze. Das klingt schön. Gattiker erwähnt nicht, dass Zehntausende dieser Flüchtlinge in Slums leben, in erbärmlichen, schmutzigen Lagern. Von humanitärer Hilfe merken die Menschen dort nicht viel. Was spricht dagegen, dass sich die Schweiz nun grosszügig an Resettlement-Programmen beteiligt, die Kriterien für humanitäre Visa lockert und bei der Aufnahme von Flüchtlingen vor allem Frauen berücksichtigt? In Afghanistan ist jetzt ein Regime an der Macht, in dem die Diskriminierung der Frauen zum Regierungsprogramm gehört.
Anders als im Jahr 2015 gibt es zurzeit in der Schweiz keinen Asylnotstand. Dazu beigetragen haben auch schnellere Asylverfahren; Justizministerin Keller-Sutter und Amtsdirektor Gattiker leisten hier gute Arbeit. Die Schweiz kann nun afghanische Flüchtlinge aufnehmen. Eine andere Frage ist, ob sie auch den politischen Willen aufbringt. Bundesrätin Keller-Sutter lässt Zweifel daran aufkommen. Der humanitären Tradition des Landes würde es entsprechen, einen Effort zu leisten und existenziell bedrohten Menschen zu helfen. Wenigstens einigen von ihnen.