Milizsystem
Junge Gemeinderäte sind in der Schweiz Mangelware – dieser Mann ist einer von ihnen

In den Schweizer Gemeinderäten fehlen die Jungen, nur knapp sechs Prozent sind unter 35 Jahre alt. Janojan Thambirajah aus der St. Galler Gemeinde Marbach ist einer von ihnen. Er sagt, warum es die Jungen braucht.

Dominic Wirth
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Janojan Thambirajah aus Marbach ist einer der wenigen jungen Gemeinderäte.Ralph Ribi

Janojan Thambirajah aus Marbach ist einer der wenigen jungen Gemeinderäte.Ralph Ribi

Ralph Ribi

Die Macht kommt in der Politik oft pompös daher, prahlerisch gar, doch in Marbach ist das anders. Im Zimmer, in dem die Weichen der Gemeinde im St. Galler Rheintal gestellt werden, spannt sich Teppich über den Boden, ein langer, grauer Sitzungstisch steht auf ihm, und an einer Wand hängt ein Ortsplan, Marbach im Format 1:2000.

Als Janojan Thambirajah nach seiner Wahl zum ersten Mal in diesem schmucklosen Raum sass, an einem Tag im Dezember 2016, hat ihn das alles trotzdem «ein wenig nervös» gemacht. Schliesslich war es der Beginn seiner politischen Laufbahn.

Thambirajah steht im Sitzungszimmer des Marbacher Gemeinderats, einmal monatlich treffen sich die sieben Mitglieder hier zu ihrer Sitzung. Seit gut zwei Jahren ist auch Thambirajah dabei, als Vertreter der FDP. Er trägt Hemd und Sakko und eine Mappe in der Hand, so wie sich das für Gemeinderäte gehört.

Doch Thambirajah, dessen Eltern einst vor dem Bürgerkrieg aus Sri Lanka in die Schweiz flohen, hat mit einem gewöhnlichen Gemeinderat wenig gemein. Er ist das Kind von Flüchtlingen, vor 17 Jahren eingebürgert, und er ist heuer gerade einmal 28 Jahre alt geworden. Das macht ihn zu einem Exoten, in Marbach, aber auch im Rest der Schweiz. Denn nur gerade 5,6 Prozent der Gemeindeexekutive-Mitglieder – oder eines von 18 – sind unter 35 Jahre alt.

Thambirajah, der reife 28-Jährige

Das geht aus einer noch unveröffentlichten Studie der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Chur hervor. Im Rahmen der Untersuchung wurden 602 Deutschschweizer Gemeinden befragt, wie es bei ihnen um den politischen Nachwuchs steht. Und die Ergebnisse sind ernüchternd: 70 Prozent der Gemeinden gaben an, dass es ihnen Mühe bereitet, junge Leute für die Gemeindeexekutive zu rekrutieren.

Für das Schweizer Milizsystem, das vielerorts unter Druck steht, ist das ein grosses Problem. «Es ist überlebenswichtig für die Gemeinden, dass die jungen Leute sich engagieren», sagt Curdin Derungs. Derungs ist Professor an der HTW Chur und Leiter des Projekts Promo35, das neben neuen Zahlen auch eine Reihe von Vorschlägen liefert, was die Gemeinden bei der Rekrutierung verbessern können. Das Projekt wird etwa vom Gemeindeverband unterstützt.

Das Gemeindehaus von Marbach steht im Herzen des Dorfs. Neben dem Eingang hängt eine Gedenktafel, sie erinnert an Karl Kobelt, den berühmtesten Sohn des Dorfes, der es bis zum Bundesrat gebracht hat. Im Dorfkern gibt es ausserdem einen Brunnen, und gleich neben ihm steht die Dorfbeiz, das Restaurant Krone.

Wenn Janojan Thambirajah auf den Strässchen von Marbach unterwegs ist, dann ist er pausenlos damit beschäftigt, Leute zu grüssen, zu winken, «hoi Tschäno», heisst es dann oft. Thambirajah kennt die meisten der 2000 Marbacher, «70 Prozent, schätze ich mal», sagt er.

Thambirajah ist noch ein junger Mann, doch man merkt ihm das nicht immer an. Wenn er über sein Amt spricht, dann nimmt er Begriffe wie «Verantwortung» und «Demut» in den Mund, und er klingt dann sehr reif. Diese Reife spiegelt sich auch in seiner Biografie: Er leitet das Betreibungsamt von Altstätten, seit er 21 Jahre alt ist. Sitzt als Chefexperte bei Lehrabschlussprüfungen.

Auf dem Beifahrersitz seines Autos liegt ein Zivilgesetzbuch; Thambirajah macht gerade eine Weiterbildung, es ist nicht die erste, bei weitem nicht, «von nichts kommt nichts», sagt er, «das habe ich von meinen Eltern gelernt».

20 Prozent könnens sich vorstellen

Thambirajah sagt im breiten Rheintaler-Dialekt «Marpa», wenn er von Marbach spricht, er hat im TV geturnt, bis heute trompetet er im Musikverein und amtet als Aktuar. All das hat dazu beigetragen, dass er im Herbst 2016 in den Gemeinderat einzog; Tambirajah machte das viertbeste Resultat. Seither sitzt er im siebenköpfigen Gremium.

Dass es so weit kam, liegt nicht etwa daran, dass er sich das Amt schon lange zum Ziel gesetzt hätte. «Ich wurde angefragt, und ich habe gedacht: Doch, das will ich machen, ich will meinen Beitrag leisten», sagt Thambirajah. Er hat nicht vergessen, dass seine Eltern einst, in den 80er-Jahren, mit «halbleeren Koffern» in Marbach aufkreuzten. Heute wohnen sie mit den drei Söhnen – auch Janojan, der älteste, lebt noch zu Hause – in einem der vielen Einfamilienhäuser im Dorf, sie haben es vor ein paar Jahren gekauft.

Einen Beitrag leisten: Dazu wären eigentlich überraschend viele der unter 35-Jährigen bereit. Eine entsprechende repräsentative Befragung im Rahmen des Promo35-Projekts hat ergeben, dass sich rund 20 Prozent von ihnen vorstellen können, auf Stufe Gemeinde ein Amt zu übernehmen.

Die entscheidende Frage ist: Wie lässt sich dieses Rekrutierungspotenzial ausschöpfen? Dass dies heute nicht gelingt, liegt auch daran, dass der Kandidaturprozess vielen aus der U35-Generation nicht bekannt ist. 83 Prozent geben an, ihn nicht zu kennen. Gleichzeitig glauben 69 Prozent der Gemeinden, dass das Gegenteil der Fall ist.

«Diese Diskrepanz sticht ins Auge», sagt Derungs, und aus ihr folgt eine der Empfehlungen an die Gemeinden: Sie sollen mögliche junge Kandidaten gezielter ansprechen, aktive Nachwuchsförderung betreiben, die politischen Prozesse besser aufzeigen und die Kandidaten im Wahlprozess begleiten und unterstützen. «Wenn es gelänge, das Rekrutierungspotenzial bei der U35-Generation auszuschöpfen, wäre das heutige Personalproblem vielerorts gelöst», sagt Derungs.

In Marbach steht ein Entscheid an

Janojan Thambirajah ist nun seit bald zwei Jahren Gemeinderat, und er findet, dass sich das für ihn gelohnt habe. «Ich habe viel gelernt», sagt er, und so müsse man das Amt des Gemeinderats als junger Mann unter anderem betrachten: Als Horizonterweiterung. Er hofft, dass künftig mehr Vertreter aus seiner Generation in die Gemeindeexekutiven gehen, «es ist wichtig, dass wir unsere Perspektive einbringen, schliesslich müssen wir nachher mit vielen Entscheiden leben», sagt er.

Bald steht die wichtigste Entscheidung in Thambirajahs junger Politlaufbahn an, die Marbacher entscheiden am 25. November, ob sie mit der Nachbargemeinde Rebstein fusionieren wollen. Der Gemeinderat empfiehlt ein Ja, und wenn man Thambirajah fragt, wie er das sieht, dann klingt er schon wie ein erfahrener Politveteran: «Wir sind eine Kollegialbehörde, und ich stehe hinter dem Entscheid des Gremiums», sagt er.