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Johann Schneider-Ammann spricht im grossen Interview mit der «Schweiz am Wochenende» über die Wehmut des Abschieds, über Kanzlerin Angela Merkel als grosse Schwester und über seinen neuen Lebensabschnitt.
Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann empfängt im Sitzungszimmer im Bundeshaus Ost zum Interview. Er kommt direkt aus Indonesien, wo er sein letztes Freihandelsabkommen unterzeichnete: nach 17 Stunden Hin-, 19 Stunden Rückflug und 20 Stunden Aufenthalt.
Herr Bundesrat, in neun Tagen sind Sie nicht mehr Mitglied der Landesregierung. Spüren Sie Wehmut?
Johann Schneider-Ammann: Ich gebe mir Mühe, es nicht zu zeigen. Aber ein wenig wehmütig bin ich. Alles andere wäre nicht normal.
Es muss eigenartig sein, plötzlich alt Bundesrat zu sein.
Stelle ich mir das vor, gibt es mir schon zu denken. So alt komme ich mir gar noch nicht vor. Es waren aber acht Jahre intensivste Arbeit, eine äusserst spannende Welt. Nun ist genug. Es ist Zeit für einen Wechsel.
Sie wirkten gelöst, als Sie Ihren Rücktritt vor den Medien verkündeten. Und auch bei Ihrer Abschiedsrede vor dem Parlament.
Ich bin mit mir im Reinen. Ich sagte mir 2010, dass ich das Amt ein paar Jahre ausübe, wenn mich das Parlament in der Regierung will. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich den Stab in den Firmen den Kindern übergeben konnte. Die Unternehmen werden gut geführt, viel besser, als es der Vater machte (lacht). Auch die Schweiz steht heute gut da. Wir sind vollbeschäftigt, gehören zu den innovativsten Ländern. Wir sind eher zurückhaltend, was die Bürokratie anbelangt. Wir haben eine ganz gute Ausgangslage, anders, als ich ins Amt kam.
Was trafen Sie 2010 an?
Der Schweizer Franken war fast paritätisch mit dem Euro. Alle erwarteten, dass der Wirtschaftsminister etwas tut, doch er konnte nicht zaubern. Damit begann die Kritik. Ich hatte meiner Frau gesagt, meine Mission sei erfüllt, sobald wir die Krise – die Franken- und ein Stück weit auch die Parteikrise – überwunden hätten.
Das war bereits 2015 der Fall.
Die Partei fand den Rank mit Philipp Müller und der Schweizer Franken pendelte sich im Verhältnis zum Euro ein. Dann begann es mir aber richtig Spass zu machen und ich blieb länger. Meine Frau war damit einverstanden. Ich bin stolz, dass ich Bundesrat sein konnte. Ich übte das Amt mit Überzeugung und vollstem Engagement aus. Jetzt beginnt der nächste Lebensabschnitt. Der gehört meiner Frau. Sie ist 50 Jahre mit mir unterwegs, Schulschatzzeit inklusive. Sie erhält nun die Möglichkeit, zu bestimmen, was wir in den nächsten Monaten und Jahren zusammen tun.
Nicht Sie entscheiden, wie es weitergeht, sondern Ihre Frau?
Meine Frau hat von mir die Vollmacht für alles (lacht).
Sie sagten in der «Handels-Zeitung», Sie möchten nach dem Rücktritt eine kleine Schreinerei führen.
Eben. Ich würde dann mit meiner Frau verhandeln, dass ich zwischendurch eine Stunde in der Schreinerei arbeiten könnte.
Ihre Frau sah Sie wohl tatsächlich selten.
Ich war viel weg, ja. Aber öfter in meiner Zeit als Unternehmer als in meiner politischen Zeit. Als Bundesrat kamen Öffentlichkeit und Medien dazu. Es war nicht immer angenehm, eine öffentliche Person zu sein.
Litt vor allem Ihre Frau darunter?
Sie nahm das sehr ernst, verdaute es nicht ohne weiteres. Es bereitete ihr Mühe. Doch gemeinsam steckten wir es weg. Wir hadern nicht, in keiner Art und Weise.
Sie wollen nun auch aktiver Grossvater sein?
Das bin ich schon jetzt. Ich habe vier Enkel. Sie sind 5, 4, 3 und 2 Jahre alt. Ich geniesse es ausserordentlich, am Wochenende mit ihnen zu spielen. Das ist Lebensinhalt und Lebenssinn. Ich kann jetzt mehr mit den Enkeln spielen, als ich das mit den eigenen Kindern konnte. Das ist gut für die Enkel und gut für den Grossvater.
Die besten Bilder von Johann Schneider-Ammann:
Haben Sie Ihren eigenen Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen?
Nein. Ich war nicht sehr oft zu Hause. Aber wenn, dann war ich total für die Familie da. Das haben mir meine Frau und meine Kinder bestätigt.
Sie schalteten dann ab?
Schliefen die Kinder über den Mittag, arbeitete ich. Waren sie wieder wach, widmete ich mich ihnen. Ich organisierte mich. Die Kinder kamen nicht zu kurz. Wir hatten es schön, haben beste Erinnerungen.
Als alt Bundesrat können Sie aber nun noch entspannter mit Ihren Enkeln spielen?
Ja. Ich habe das Privileg des Grossvaters, der ein Auge zudrücken darf, wenn die Eltern die Erziehungslinie einhalten wollen. Wir spielen Eisenbahn und anderes. Dem Grossvater tut alles weh, wenn er zwei Stunden lang auf dem harten Boden herumgerutscht ist. Und die Kleinen jucken sofort ins nächste Abenteuer. (stockt) Jetzt müssen Sie eine nächste Frage stellen. Sonst gerate ich ins Schwärmen.
Zeigt Ihr Schwärmen, dass Sie den Rücktritt bereits vollzogen haben?
So einfach ist es nicht. Letztes Wochenende war für mich der letzte wesentliche Akt. Ich unterschrieb in Jakarta das Freihandelsabkommen mit Indonesien. Dabei ertappte ich mich beim Gedanken: that was my political life. Der indonesische Kollege rettete mich, weil er sagte, er werde demnächst privat in der Schweiz sein. Wir machten gleich ein Treffen aus und die Welt war wieder in Ordnung. In den acht Jahren konnte ich ein paar Freundschaften aufbauen, die über das politische Geschäft hinausgehen.
Mit wem?
Zum Beispiel mit den deutschen Wirtschaftsministern Philipp Rösler und Sigmar Gabriel. Ich könnte noch andere aufzählen. Das sind Freundschaften, die bis heute Bestand haben. Wir telefonieren, tauschen uns aus. Mit dem Amt hat das nichts mehr zu tun.
Es gibt sie also doch, die Freundschaften in der Politik?
Sie sind möglich, ja. Wenn man gemeinsam durch Hochs und Tiefs gegangen ist, kann man sich einschätzen und lernt sich schätzen. Das hält.
Gabriel ist ja SPD-Politiker.
Ich habe meine Lebensschule in der Firma und in der Sozialpartnerschaft gemacht. Für mich sind Individuen und Vertrauensverhältnisse viel entscheidender als die Tatsache, dass jemand liberal, grünliberal oder gelbliberal ist.
Einen guten Draht fanden Sie auch zu Kanzlerin Angela Merkel.
Ich hatte im Präsidialjahr mehrfach die Gelegenheit, Frau Merkel zu treffen. Jedes einzelne Treffen war ein Erlebnis. Das begann mit der Cebit, ging über die Einweihung des Gotthard-Basistunnels und den Flug zwischen Ulan Bator und Berlin.
Bilder von der Eröffnungsfeier des Gotthard-Basistunnel:
Sie konnten damals mit der Kanzlerin aus der Mongolei nach Berlin zurückfliegen, da Sie wegen des Putsches in der Türkei festsassen.
Das waren sechs intensive und spannende Stunden, die wohl mithalfen, dass sie uns später im Europa-Dossier weiterhalf.
Was machte die Begegnung mit ihr so spannend?
Entscheidend ist, dass man sich spürt und wertschätzt. Wir verstanden uns auf Anhieb. Sie sah in mir wohl den typischen Schweizer, der zuerst überlegt, bevor er spricht. Und ich sehe in Frau Merkel eine höchst gebildete und bewanderte, sehr bescheidene Frau, die sich «down to earth» gibt. Man hat das Gefühl, sie sei die ältere Schwester.
Ihre ältere Schwester?
Ja. Die ältere Schwester, die zu einem schaut. Die sich einem annimmt und Informationen anvertraut. Frau Merkel ist für mich eine Ausnahmeerscheinung, ein Leuchtturm, an dem man sich orientiert. Es ist Gott sei Dank so: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Das wird auch in Zukunft so sein. Die Digitalisierung ist nur ein Mittel zum Zweck.
Es führt kein Weg an persönlichen Treffen vorbei?
Man kann via Telefon verhandeln, wenn man zum Beispiel den indonesischen Handelsminister Enggartiasto Lukita persönlich so gut kennt wie ich. Dann darf man ihm im entscheidenden Moment auch sagen: «Hör mal, was du sagst, ist Chabis. Das kann ich nicht akzeptieren.»
Sie waren acht Jahre Bundesrat. Worauf sind Sie besonders stolz?
Sie erwarten jetzt, dass ich sage: die Freihandelsabkommen mit China, Indonesien und 15 weiteren Ländern. Aber so ist es nicht.
Wie ist es?
Ich hatte am Montag die Preisträger von «Schweizer Jugend forscht» vor mir. Wenn mich etwas stolz macht, ist es unser Bildungs-, Forschungs- und Innovationssystem. Es erfasst alle, gibt vor allem den Jungen eine Chance. Deshalb sind wir bildungsmässig immer einen Nagel voraus, sind vollbeschäftigt. Ich habe acht Jahre lang mit dafür gesorgt, dass das Arbeitsgesetz im internationalen Vergleich attraktiv blieb. Es lockt Investoren an, die in
der Schweiz Geld ausgeben. Damit entstehen hier Arbeitsplätze. Das ist mir ganz wichtig. Einen zweiten wichtigen Punkt erlebte ich als Bundespräsident.
Welchen?
Die Schweiz hat international einen enorm guten Ruf. Sie gilt als zuverlässig, best educated, best employed. Im Mittleren Osten sagte man mir einmal: «You Switzerland are the central bank of trust.» Nicht die Zentralbank des Geldes, sondern die Zentralbank des Vertrauens.
«Jobs, Jobs, Jobs» ist einer Ihrer wichtigsten Slogans.
Dazu stehe ich. Für mich sind Jobs, Jobs, Jobs (klopft dreimal auf die Tischplatte) das Entscheidende. Das führt zu einer stabilisierten Gesellschaft. Sie ist besonders wichtig, wenn man an die Gilets jaunes denkt, die in Frankreich herummarschieren. Wir können uns nur wünschen, dass diese Gelbwestenbewegung nicht auf die Schweiz übergreift.
Bilder von den gewalttätigen Protesten der «Gilets jaunes» in Frankreich:
Befürchten Sie das?
Solange wir den Leuten vermitteln können, dass wir sie ernst nehmen und ihnen Chancen eröffnen, habe ich keine Angst. Ich habe nicht umsonst schon vor drei Jahren grosse Geldbeträge im Bundesrat beansprucht, um uns zu befähigen, mit dem digitalen Dasein umzugehen.
Sie nannten die Schweiz stets das «Petit Paradis». Ist es gefährdet?
Sind wir uns zu sicher, werden wir zu arrogant, weil es uns ein wenig besser geht als anderen: Dann ist es gefährdet.
Sind wir das schon?
Nein. Wir sind noch nicht dort angelangt. Wir müssen aber aufpassen, dass wir nicht in diese Richtung rutschen, ohne es zu realisieren. Wir dürfen nicht auf bequeme Abwege geraten und damit das Erreichte infrage stellen.
Wissen Sie eigentlich, wie viele Länder Sie als Bundesrat besucht haben?
Gar nicht so viele. Pro Jahr machte ich drei Reisen mit je vier Stationen. Das ergibt zwölf Länder. Hochgerechnet auf acht Jahre entspricht das 96 Ländern. Dividiert durch zwei – ich habe ja viele doppelt besucht – sind das 50 Länder (lacht).
Und wie viele Flugkilometer haben Sie absolviert?
Das weiss ich definitiv nicht.
Gleich mit zehn Ländern hat Johann Schneider-Ammann (66) als Bundesrat zwischen 2010 und heute Freihandelsabkommen unterzeichnet: Bosnien, Georgien, Montenegro, Costa Rica, Panama, Ecuador, Hongkong, China, Philippinen und Indonesien. Dazu kommt das Beitrittsprotokoll mit Guatemala. Zusätzlich wurde in seiner Amtszeit das Abkommen mit der Türkei neu verhandelt und ein neues Agrarabkommen mit Israel unterzeichnet. Auch wurde den Abkommen mit Serbien und Albanien ein Nachhaltigkeitskapitel beigefügt.
Kein Wunder, gilt Schneider-Ammann als Mister Freihandel der Schweiz. Besondere Anliegen waren dem Wirtschaftsminister auch die Jobsituation in der Schweiz, die Berufsbildung und die Digitalisierung. Zugleich fiel er mit einem so hohen Arbeitsethos auf, dass es ihn bis an die Grenze der Belastbarkeit führte.
Schneider-Ammann war 2010 als Nachfolger von Hans-Rudolf Merz in die Regierung gewählt worden. 2016 war er Bundespräsident. Am 25. September 2018 gab er seinen Rücktritt per 31. Dezember bekannt.
Schneider-Ammann hat Elektrotechnik an der ETH Zürich studiert und 1983 in Paris einen Master of Business Administration erworben. Ab 1990 führte er die im bernischen Langenthal beheimatete Ammann Group während 29 Jahren. Zwischen 1999 und 2010 war der Freisinnige Nationalrat und präsidierte gleichzeitig den Verband der schweizerischen Maschinenindustrie Swissmem. Schneider-Ammann ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und vier Enkelkinder.
Es waren mehrere Weltumrundungen?
Das schon, ja.
Sie kommen gerade von einer solchen Reise aus Indonesien zurück: 17 Stunden Hinflug, 20 Stunden Aufenthalt, 19 Stunden Rückflug.
Es war eine wichtige Reise. Ich unterschrieb das Freihandelsabkommen und nahm dafür die Reisestrapazen ganz bewusst in Kauf. Schon in absehbarer Zeit haben wir einen neuen Markt
mit 280 Millionen Konsumenten zu bevorzugten Bedingungen.
Haben Sie eigentlich als Bundesrat fast nur im Flugzeug oder im Helikopter gelebt?
Ich habe versucht, die Zeit maximal zu optimieren. Konnte ich Veranstaltungen verkehrstechnisch mit den Luftverkehrsmitteln wesentlich zeiteffektiver besuchen, tat ich das. So war ich länger und öfter an Veranstaltungen. Die Bürger schätzten das ausserordentlich. Wenn wir Bundesräte in den Regionen unterwegs sind, trägt das mit Sicherheit dazu bei, Vertrauen in die Landesregierung zu schaffen.
Sie seien «Der Unermüdliche», schrieb die «NZZ». Stimmen Sie zu?
Ich warf den Bettel nie vorzeitig und freiwillig hin. Wenn man aber dauerhaft 16 Stunden unterwegs ist, beginnt man das irgendwann zu spüren.
Sie haben Raubbau an sich selbst getrieben?
(Lacht und verwirft die Hände) Ach, hören Sie doch auf zu reden wie meine Frau. (lacht wieder) So. Das wars. Wenn Sie mit dem Interview weiterfahren wollen, müssen Sie morgen vor dem Frühstück wiederkommen.
Noch ein Punkt: Sie wollen zwar Ihre Zeit als alt Bundesrat Ihrer Frau schenken. Ganz ohne Arbeit können Sie aber doch nicht sein.
Ich werde mehrere Engagements haben. Auch Verwaltungsratsmandate.
Können Sie sagen welche?
Nein.
Was tun Sie mit dem Ruhegehalt von 224 000 Franken?
Damit habe ich mich noch nicht beschäftigt. Ich will möglichst unabhängig bleiben vom Staat.
Das heisst: Sie nehmen es nicht an?
Werde ich nicht armengenössig, brauche ich es wahrscheinlich nicht.
Haben Sie Ihr Büro eigentlich schon geräumt?
Es ist schon ziemlich geräumt, ja. Wir haben das Büro in den letzten paar Wochen systematisch durchforstet. Ich werde rechtzeitig gehen.