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Schweiz
Mit Dutzenden Ehrverletzungsklagen hat sich der Präsident des «Vereins gegen Tierfabriken» (VgT) gegen die öffentliche Bezeichnung als «Antisemit» gewehrt. Bisher war er damit zumeist erfolgreich. Jetzt sagt das Bundesgericht in einem Fall aus dem Jahr 2015 aber: Die Bezeichnung war richtig.
Erwin Kessler ist nicht nur ein streitbarer Tierschützer mit pointierten Ansichten, insbesondere zum jüdischen Schächten. Der Präsident des Vereins gegen Tierfabriken beschäftigt auch immer wieder die Justiz. In Dutzenden Fällen hat Kessler gegen Privatpersonen und Medienschaffende, die ihn in die Nähe des Judenhasses rückten, Zivilklagen und Strafanzeigen eingereicht.
Dabei ist Kessler nicht nur gegen jene vorgegangen, die einen solchen Text selber verfassten. Auch wer ihn nur schon auf Facebook oder Twitter teilte, musste stets mit einer Anzeige rechnen. Häufig endeten die Verfahren mit einer Verurteilung per Strafbefehl. Die vermeintlich Fehlbaren hatten offenbar weder Zeit noch Kraft, sich gegen Kessler zu wehren. Oder es fehlten ihnen das Wissen und die finanziellen Mittel. Die Verurteilungen zelebrierte Kessler regelmässig öffentlich auf der Webpage seines Vereins.
Jetzt wirft ein aktuelles Urteil des Bundesgerichts ein neues Licht auf Kesslers Justizerfolge. Es stellt sich die Frage: Waren Dutzende Verurteilungen Fehlurteile? Es ist zu vermuten.
Konkret hatte das Bundesgericht einen Facebook-Post des schweizweit bekannten Freidenkers und Aktivisten Valentin Abgottspon aus dem Jahr 2015 zu beurteilen. Abgottspon hatte darin auf einen Text einer Veganer-Gruppe verlinkt, in welchem Kessler als «mehrfach verurteilter Antisemit» und sein VgT als «antisemitische Organisation» bezeichnet wurden.
Dagegen reichten Kessler und der VgT eine Zivilklage und eine Strafanzeige wegen übler Nachrede ein. Auch wenn Abgottspon den Text zwar nicht selber geschrieben habe, so habe er sich mit der Weiterverbreitung doch persönlichkeitsverletzend verhalten und sogar strafbar gemacht. Im Zivilverfahren gab Abgottspon aus Kostengründen auf. Die strafrechtliche Verurteilung hingegen akzeptierte er nicht und zog den Fall mit seinem Anwalt Amr Abdelaziz bis vor das höchste Gericht nach Lausanne.
Jetzt, und das ist bahnbrechend in der langen Liste der Kessler'schen Strafanzeigen, hat das Bundesgericht geurteilt: Zum Tatzeitpunkt durfte man Kessler sehr wohl «Antisemit» nennen. Es handle sich dabei nicht um üble Nachrede. Zwar sei Kessler kein «mehrfach verurteilter Antisemit», sondern im Jahr 2000 wegen «mehrfacher Rassendiskriminierung» nur ein Mal vom Bundesgericht verurteilt worden. Da er selber aber in einem Interview mit dem «St. Galler Tagblatt» im Jahr 2014 von einer mehrfachen Verurteilung gesprochen habe, sei auch diese Formulierung zulässig gewesen.
Wichtiger aber: Kessler habe sich auch nach seiner Verurteilung negativer, gegen Juden gerichteter Stereotypen bedient, den Holocaust verharmlost und «offen seinen Hass gegen die von ihm abschätzig bezeichneten ‹Schächt-Juden› geäussert». In Summe, so das Bundesgericht, zeige sich bei Kessler eine «gewisse Kontinuität seiner Überzeugung».
Valentin Abgottspon hat sich gegenüber Kessler damit definitiv nicht der üblen Nachrede schuldig gemacht. Ob das auch für den VgT zutrifft, muss nun das Berner Obergericht erneut beurteilen. Nach Lage der Dinge stehen die Chancen auch in diesem Teilaspekt des Falles gut, dass es zu einem Freispruch kommt.
Abgottspon sagt, die von Kessler angestrengten Prozesse hätten ihn insgesamt mehr als 100000 Franken gekostet. Er habe Geld bei nahen Angehörigen sammeln müssen, um sich vor Gericht verteidigen zu können können. Auf dem Löwenanteil der Kosten werde er wohl sitzenbleiben. Die Sache sei sehr zermürbend und kräftezehrend gewesen. «Hätte ich gewusst, wohin das alles führen würde, hätte ich vielleicht von Anfang an die Zivilklage anerkannt und den Strafbefehl akzeptiert und hätte nicht den ganzen Instanzenzug bis nach Lausanne auf mich genommen», sagt Abgottspon, und weiter:
Aber ich konnte mir eine Verurteilung schlicht nicht vorstellen - bei all den judenfeindlichen Äusserungen Kesslers, die man auf der Webpage des VgT fand.
Das Urteil kommt auch für Regula Sterchi zum richtigen Zeitpunkt. Die Aktivistin, auch sie eine Klientin von Amr Abdelaziz, war von Kessler und dem VgT in der praktisch identischen Sache angezeigt worden. Im Gegensatz zur Berner hatte die Zürcher Justiz anerkannt, dass in Bezug auf die Person Kessler der Begriff «Antisemit» verwendet werden dürfe.
Nachdem das Berufungsverfahren wegen eines Formfehlers wiederholt werden muss, wird nun das Zürcher Obergericht zu beurteilen haben, ob der Vorwurf des «Antisemitismus» auch auf den VgT gemünzt zulässig sei auf den VgT gemünzt nicht zulässig ist. Sterchi kann sich damit gute Chancen ausrechnen. Sie sagt: «Diese juristische Auseinandersetzung hat mich finanziell und psychisch äusserst belastet. Das geht auch anderen so, die von Kessler angezeigt worden sind.»
Und was ist mit all jenen, die in vergleichbaren Fällen - wie sich jetzt zeigt: zu Unrecht - rechtskräftig verurteilt worden sind? Anwalt Abdelaziz sagt dazu: «Diese Personen können wahrscheinlich nichts mehr machen. Viele von ihnen wurden für Äusserungen und zum Teil für blosse Likes auf Facebook oder Twitter strafrechtlich verurteilt und auch finanziell erheblich geschädigt, obwohl sie – wie wir heute wissen – nichts Falsches gemacht hatten. Es ist stossend, aber ich gehe davon aus, dass allfällige Revisionsgesuche abgewiesen würden.»
Abgottspon und Sterchi versuchen nun, den finanziellen Schaden, den sie durch Kesslers Klagen erlitten haben, wenigstens teilweise wieder auszugleichen. Sie sammeln über eine Spendenplattform, welche über www.gerechtsanwalt.ch erreichbar ist.
Der Autor dieses Artikels ist, wie andere Journalisten auch, von Erwin Kessler eingeklagt und angezeigt worden. Konkret ging es um den Titel eines Online-Artikels, der Kesslers Missfallen erregt hatte. Nach mehreren Prozessschritten hat Kessler schliesslich akzeptiert, dass kein strafbares Verhalten des Journalisten vorlag.