Nationalrat lehnt Kürzungen bei Invalidenversicherung ab. Wie Recherchen ergeben: Bundesnahe Betriebe haben Mühe, Behinderte zu integrieren. Post und SBB beschäftigen rund 1500 Behinderte. Die Swisscom rückt dagegen die Zahlen nicht raus.
Wenn sie spricht, verschluckt der Lärm im Nationalratssaal ihre Stimme. Doch was sie am Dienstag sagte, fand Gehör: Die grünliberale Nationalrätin Margrit Kessler aus St. Gallen hat mit dazu beigetragen, dass der Nationalrat gestern deutlich gegen die von Ständerat und Bundesrat beschlossene IV-Kürzung stimmte.
Mit 108:78 Stimmen bei 4 Enthaltungen wehrten sich die Nationalräte dagegen, dass fortan nur noch Menschen mit Invaliditätsgrad ab 80 Prozent eine Vollrente beziehen dürfen. Die Schwelle soll bei 70 Prozent bleiben. Definitiv darüber entscheiden wird der Ständerat.
Neben den Grünen und der SP ist Kesslers Partei die einzige, die für die Vollrente für Behinderte mit Invaliditätsgrad zwischen 70 und 79 Prozent stimmte. Auch die Mehrheiten der BDP und der CVP liessen sich von Kessler und dem selbst behinderten Thurgauer CVP-Nationalrat Christian Lohr überzeugen. Hingegen erinnerten SVP und FDP an das Versprechen, die IV zu sanieren, und an die Bestrebung, Behinderte im Arbeitsmarkt zu integrieren.
Während Lohr ans Gewissen appellierte und den Renten-Kürzern vorwarf, sie handelten «ethisch unwürdig, unanständig und verantwortungslos», konnte Kessler nachweisen, dass bundesnahe Betrieben Mühe haben, Behinderte zu integrieren. Die Angaben, die Kessler von den SBB, der Post und der Swisscom erhielt, liegen der «Nordwestschweiz» vor.
Die Post beschäftigt rund 800 behinderte Mitarbeiter (2,3 Prozent) und die SBB zwischen 600 und 700 (2,3 bis 2,6 Prozent). Beide Betriebe verfolgen das Ziel, verunfallte oder kranke Mitarbeiter zu integrieren. Nur die Swisscom rückt keine Zahlen heraus – aus Datenschutz-Gründen. Auch Angaben zu Integrations-Massnahmen macht sie keine. Die Swisscom stellt wohl auch keine Behinderten mit hohem Invaliditätsgrad ein: Das Unternehmen bietet kaum 30-Prozent-Stellen an – erst bei 40-Prozent-Pensen gebe es eine Win-win-Situation. So fallen genau jene aus dem Raster, die einen Invaliditätsgrad von 60 Prozent und mehr haben.
Die Beschäftigung von verunfallten oder kranken Mitarbeitern ist aber nur ein Aspekt der Integration, wie viele Behinderte neu eingestellt werden, ist ein anderes Thema. Offen sagen die Betriebe dazu nichts. Dem Vernehmen nach ist einzig die Post bereit, 20 Stellen neu zu schaffen. Zum Vergleich: Die drei Betriebe bieten zusammen rund 80'000 Arbeitsplätze.
Auch für die Aargauer CVP-Nationalrätin Ruth Humbel sind die Zahlen ernüchternd, wie sie sagt. Das sei aber kein Grund, den Invaliditätsgrad herunterzusetzen. Denn Ziel der IV-Revision sei es, 12'000 behinderte oder kranke Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wenn die Betriebe nicht spuren, müsse der Druck erhöht werden. Und falls das nicht klappe, brauche es eine Quote.