Winterthur
Islamisten wollten ihre eigene Justiz durchsetzen

Heute Montag beginnt in Winterthur der Prozess gegen zehn Männer. Sie sollen zwei angebliche Spione misshandelt und ein Geständnis aus ihnen herausgepresst haben.

Andreas Maurer
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Polizei-Razzia in der An’Nur-Moschee in Winterthur am 2. November 2016: Diese Woche kommt es zum Prozess. Foto: Keystone

Polizei-Razzia in der An’Nur-Moschee in Winterthur am 2. November 2016: Diese Woche kommt es zum Prozess. Foto: Keystone

KEYSTONE

Das Winterthurer Bezirksgericht befindet sich diese Woche im Ausnahmezustand. Von Montag bis Freitag findet die Hauptverhandlung im An’Nur-Prozess statt. Normalerweise dürfen Zuschauer und Journalisten im Hauptgerichtssaal Platz nehmen. Doch diesmal ist er für die Öffentlichkeit gesperrt. Die Plätze sind besetzt durch die zehn Angeklagten, ihre zehn Verteidiger, die Privatkläger, die Staatsanwältin und die Richter. Das Publikum verfolgt den Prozess über Videoübertragung in zwei kleineren Gerichtssälen.

Die Staatsanwältin klagt die Beschuldigten mit zehn separaten Anklageschriften an, gemäss derer sich die Tat in der mittlerweile geschlossenen An’Nur-Moschee folgendermassen abgespielt haben soll. (Wegen der Lesbarkeit wird auf den Konjunktiv verzichtet, es gilt aber stets die Unschuldsvermutung.)

Feind in den eigenen Reihen

An einem Dienstagabend im November 2016 glauben Mitglieder der Jugendgruppe der An’Nur-Moschee den Feind in den eigenen Reihen entdeckt zu haben. Sie glauben, herausgefunden zu haben, wer einen Journalisten mit der Aufzeichnung einer Hasspredigt, Fotos sowie Insider-Informationen beliefert haben könnte. Als Reaktion auf den Medienbericht hatte die Polizei zwanzig Tage vorher eine Razzia in der Moschee durchgeführt und einen Hassprediger festgenommen.

Im Verdacht hat die Jugendgang einen heute 32-jährigen und einen 35-jährigen Kollegen. Die Rädelsführer schliessen die Moscheetüre von innen und verlangen von den beiden «Spionen» die Smartphones und die Pincodes. Der eine Angegriffene weigert sich und sagt: «Geht’s noch?» Die Gruppe umzingelt ihn, verpasst ihm einen Faustschlag an den Kopf und mehrere Ohrfeigen. Er gerät in einen Schockzustand und händigt sein Handy und den Code aus.

Danach packen sie ihn an beiden Seiten, schleppen ihn vom Eingangsbereich der Moschee in den Gebetsraum und setzen ihn vor eine Wand. Nun stecken sie ihm eine Zehnernote in den Mund, drücken seinen Unterkiefer nach oben und verlangen, dass er sie schluckt. Einer wirft ihm vor, er habe seine Religion für Geld verkauft, hier sei das Geld. Die anderen stehen um ihn herum und beschimpfen und bespucken ihn. Er schluckt die Zehnernote.

«Wie willst du sterben?»

Einer sagt: «Wie willst du sterben? Sollen wir deinen Schädel zerstören oder sollen wir dich köpfen? Du solltest nicht hier in der Moschee sterben, dein Blut ist zu dreckig für die Moschee.» Der einzige Jugendliche der Gruppe ruft zu den anderen, jemand solle ein Messer holen. Danach sperren sie ihn ins Büro neben dem Gebetsraum ein und pressen ein Geständnis aus ihm heraus. Diese Aufgabe ist Chefsache: Der Imam und der Vereinspräsident sprechen vor, was er zu sagen hat, und zeichnen seine Aussagen als Beweismittel auf. Mit dem anderen «Spion» gehen sie danach ähnlich vor.

Fast zwei Stunden vergehen, bis die Polizei die Moschee stürmt. Als der Mob auf den ersten «Verräter» losgegangen ist, hat der andere auf dem WC per SMS einen Hilferuf an einen Polizisten geschickt. Die Beschuldigten werden allerdings nicht bei diesem Polizeieinsatz festgenommen, sondern erst drei Monate später. So haben sie Zeit, Beweise zu vernichten.

Der jüngste Angeklagte war bei der Tat 17, der älteste ist der 54-jährige Imam. Die meisten sind Anfang 20. Sie sind angeklagt wegen Freiheitsberaubung, Nötigung, Drohung und weiteren Straftatbeständen. Die Staatsanwältin verlangt Freiheitsstrafen von zwei bis drei Jahren, wobei alle mindestens ein Jahr ins Gefängnis müssten, der Rest wäre auf Bewährung. Die vier Ausländer der Gruppe – darunter der Imam – sollen einen zehnjährigen Landesverweis erhalten.

Heute Montag beginnt der Prozess mit den Einvernahmen der Beschuldigten. Am Dienstag und Mittwoch sind die Plädoyers angesetzt. Am Donnerstag können die Parteien ein zweites Mal referieren und die Beschuldigten ein Schlusswort halten. Der Freitag ist zur Reserve eingeplant. An diesem Tag wird zudem das Jugendgericht den Fall des einzigen Jugendlichen der Gruppe unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandeln. Die Urteile werden drei Wochen später, am 23. Oktober, verkündet. Der Prozess wird zeigen, wie die Schweizer Justiz mit der mutmasslichen Selbstjustiz in der einst berüchtigtsten Moschee des Landes umgeht.